Von den ersten eidgenössischen Wahlen mit Frauenbeteiligung (1971) bis zu den jüngsten Wahlen von 2019 ist der Anteil der gewählten Frauen im Nationalrat mehr oder weniger kontinuierlich von fünf auf 42 Prozent gestiegen, im Ständerat von zwei auf 26 Prozent. In diesen je 13 Wahlen wurden insgesamt 257 Nationalrätinnen und 42 Ständerätinnen gewählt. Doch: Wer waren diese Frauen? Ein neues Buch gibt darüber Auskunft.
Selbst Fachleute dürften kaum alle aktuellen Parlamentarierinnen mit Namen aufzählen können. Bei den früheren Parlamentarierinnen ist dies wohl noch weniger der Fall, vielleicht abgesehen von Parlamentarierinnen wie zum Beispiel Lilian Uchtenhagen, Judith Stamm oder Josi Meier, die stark in der Öffentlichkeit standen. Allenfalls erinnert man sich an die früheren Parlamentarierinnen noch in den Kantonen, in denen sie gewählt wurden, oder in den Parteien, denen sie angehörten.
Historikerin und Politikerin
Die promovierte Luzerner Historikerin Margrit Steinhauser gibt hier etwas Gegensteuer. Mit ihrer 2021 erschienen Publikation will sie nicht mit statistischen Methoden arbeiten, wie das in der Politologie und Soziologie üblich ist, sondern sie will die Biographien der einzelnen gewählten Frauen sammeln und zu einer «Kollektivbiographie» verdichten. Sie bezieht sich dabei auf eine Methode der Geschichtswissenschaft, welche individuelle Lebensläufe hinsichtlich einiger charakteristischer Merkmale eines idealtypischen Personenkollektivs vergleicht. Weiter will sie auch einen Blick auf die Hürden, Stationen und die Kontaktnetze der Frauen in der Politik werfen.
Bei ihrem Vorhaben kann die Autorin selber auf eine reiche Erfahrung zurückgreifen. Sie war unter anderem über zehn Jahre lang für die SP im Luzerner Kantonsparlament und hat als Historikerin im Auftrag der Luzerner Regierung alle Mitglieder des Grossen Rats von 1803 bis 2007 erfasst und biografisch ausgewertet, als «Kollektivbiografie».
Die einzelnen Parlamentarierinnen im Fokus
Ihre aktuelle Studie ist ein eher schmales Bändchen von rund 140 Seiten mit vielen Tabellen und Abbildungen. Margrit Steinhauser fokussiert ganz auf die Frauen im eidgenössischen Parlament, und weil es deutlich mehr Nationalrätinnen als Ständerätinnen gab, liegt der Schwerpunkt der Studie bei Ersteren.
Die Wahlen in den rund fünfzig Jahren mit Frauenbeteiligung werden nach Dekaden besprochen. Dabei stehen am Anfang jedes Kapitels jeweils Tabellen mit den Namen der Frauen, die in den Nationalrat gewählt wurden, ergänzt um deren Parteizugehörigkeit und Kantonsherkunft. Im Text werden die einzelnen Parlamentarierinnen unter gewissen Aspekten wie Beruf oder politischem Werdegang besprochen. Abschliessend wird das Jahrzehnt inhaltlich charakterisiert, wobei vor allem die wichtigsten politischen Geschäfte aufgelistet werden, welche die Gleichstellung betrafen (z. B. Schwangerschaftsabbruch, Gleiche Rechte, Mutterschaftsversicherung).
In weiteren Tabellen wird die Parteizugehörigkeit der Nationalrätinnen aufgeführt. Insofern dies nur mit absoluten Zahlen geschieht, sind diese Tabellen nicht besonders aussagekräftig. Ein vergleichender Blick, in Prozentzahlen, auf die gewählten Nationalräte hätte den Informationsgehalt der Tabellen erhöht.
Von Pionierinnen zu «Vergessenen»
Bei den ersten Wahlen von 1971 waren die Frauen als Kandidatinnen gesucht und am Wahltag standen die gewählten Frauen besonders im Fokus des öffentlichen Interesses. Bei den späteren Wahlen aber liess dieses Interesse nach. Margrit Steinhauser erinnert in den ersten Kapiteln auch an die damals herrschenden anachronistischen Zustände, wonach die Frauen zum Zeitpunkt der ersten eidgenössischen Wahlen in einigen Kantonen noch nicht stimmberechtigt waren. Vor allem aber unterstanden die verheirateten Frauen – nach damals noch geltendem Recht – ihrem Ehemann als Oberhaupt der Familie. Den sieben verheirateten Nationalrätinnen hätten so die Gatten die Zustimmung zur Ausübung des Mandats geben müssen, ebenso zu ihrer beruflichen Tätigkeit (die meisten Nationalrätinnen hatten überdurchschnittlich gute Ausbildungen und übten qualifizierte berufliche Tätigkeiten aus).
Die neu gewählten Frauen nahmen überdurchschnittlich stark Einsitz in die verschiedenen Kommissionen und sie befassten sich mit einer ganzen Palette von Themen. Die Kommissionsarbeit war wichtig für die Frauen, konnten sie doch damit ihre Kompetenzen aufbauen und ihre Netzwerke stärken. Dieser interessante Aspekt wird leider nicht über den ganzen Zeitraum verfolgt.
Ernüchternde Bilanz
Auf die Phase der «Pionierinnen» folgte ein Jahrzehnt, in dem die Frauen «im männlichen Gegenwind» standen. Zwar brachten die SP und Grüne vermehrt Frauen in das eidgenössische Parlament, bei den bürgerlichen Parteien aber waren die Frauen die «Vergessenen». Entsprechend ernüchternd fiel 1991, nach zwanzig Jahren, die Bilanz für die Frauen aus. Kenntnisreich schildert Margrit Steinhauser die Frauensession und den ersten Frauenstreik sowie die Umstände der Nichtwahl von Christiane Brunner in den Bundesrat – sie nennt es das «prägendste und zugleich erschütterndste» Ereignis der Neunzigerjahre. Immerhin gelang es den Frauen, wichtige Allianzen für ihre Kerndossiers zu schmieden. Dabei konnten sie einige Erfolge erzielen wie etwa beim Opferhilfegesetz, beim Gleichstellungsgesetz oder bei der 10. AHV-Revision.
Die ersten drei Dekaden werden von Margrit Steinhauser relativ ausführlich behandelt, mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Es ist über weite Teile ein Genuss, ihre Ausführungen zu den National- und Ständerätinnen zu lesen. Hier wird zum Teil schon Bekanntes in Erinnerung gerufen, es finden sich aber auch neue Informationen. Die Wahlen nach der Jahrhundertwende werden dagegen stiefmütterlich abgehandelt. Neben der tabellarischen Darstellung der Namen der gewählten Frauen finden sich vor allem allgemeine Ausführungen zu den Wahlen und zu den Parlamentarierinnen.
Machtkampf um den Bundesrat
Auch wenn der Fokus erklärtermassen auf die eidgenössischen Parlamentarierinnen gerichtet ist, widmet sich Margrit Steinhauser auch dem Machtkampf um den Bundesrat, angefangen mit dem gescheiterten Versuch von Lilian Uchtenhagen bis zur Wahl von Karin Keller-Sutter und Viola Amherd. Beim unfreiwilligen Rücktritt von Elisabeth Kopp und bei der Abwahl von Ruth Metzler verweist die Autorin auf die Bedeutung einer guten Vernetzung, die gerade bei diesen beiden Fällen ungenügend entwickelt war.
Abschliessend arbeitet die Autorin, in zwei Synthesekapiteln («Weibliche Politlaufbahn», «Im Ratsbetrieb») und einer Zusammenfassung wesentliche Erkenntnisse ihrer Studie heraus. Auch wenn dies nicht besonders systematisch geschieht, sind diese Kapitel kenntnisreich geschrieben und beinhalten interessante Informationen. So verweist Margrit Steinhauser auf die unterschiedlichen Bedingungen in den Herkunftskantonen: Namentlich in den traditionellen, ländlichen und katholischen Kantonen hatten es Frauenkandidaturen besonders schwer. Weiter erinnert sie daran, dass für das Fortkommen der Politikerinnen die Konsumentenschutzbewegung eine zentrale Rolle spielte; in der Romandie war sie bereits eng mit der Frauenstimmrechtsbewegung verbunden. Interessant ist auch der Hinweis auf die Bedeutung der Lobby von Landwirtschaftsorganisationen für Kandidatinnen mit einem landwirtschaftlichen Hintergrund. In diesen beiden Kapiteln finden sich auch integrale Zusammenstellungen zu Ausbildung und Alter der Nationalrätinnen sowie zu politischen Ämtern, welche die Frauen auf nationaler Ebene innehatten: Parteipräsidien, Fraktionspräsidien sowie das Präsidium des National- und des Ständerates.
«Ochsentour» ist immer noch wichtig
Besonders wertvoll sind im Anhang zwei umfangreiche Tabellen über die politischen Laufbahnen jeder einzelnen National- und Ständerätin. Sie beinhalten die Funktionen, welche die einzelnen Parlamentarierinnen früher in den verschiedenen politischen Institutionen innegehabt haben. Margrit Steinhauser resümiert diesbezüglich im abschliessenden Kapitel, dass die Gemeindeparlamente und -exekutiven den Frauen gute Plattformen bieten würden, und hält fest, dass die kantonalen Parlamente für die grosse Mehrheit der Politikerinnen eine wichtige Station auf dem Weg ins Bundesparlament bildeten. Die so genannte Ochsentour sei aber auch heute noch wichtig: «Schritt für Schritt, Stufe für Stufe können politische Qualifikationen erworben, das vielseitige Polithandwerk erlernt und Netzwerke aufgebaut werden».
Es ist Margrit Steinhauser gelungen, ein buntes Panorama der Frauen in den eidgenössischen Räten der letzten fünfzig Jahre zu entwerfen, ohne sich zu sehr in persönlich Biografischem zu verstricken. Sie schreibt engagiert und zollt den Frauen, namentlich den Pionierinnen, mehrfach Respekt. Nachdem mit den Analysen der ersten Dekaden eine gewisse Erwartungshaltung geweckt wurde, kann bei der knappen Darstellung der jüngeren Wahlen eine gewisse Enttäuschung nicht verborgen werden. Vielleicht hätte eine Auswertung der verschiedenen erfassten Variablen mit den Methoden der empirischen Sozialforschung noch die eine oder andere Erkenntnis zu Tage gefördert. Gleichwohl darf Margrit Steinhauser mit ihrer Publikation für sich in Anspruch nehmen, den Reigen der zahlreichen Publikationen zu «50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz» mit einem eigenständigen und informativen Beitrag ergänzt zu haben.
Margrit Steinhauser: Die Frauen im Parlament. Kollektivbiografie der National- und Ständerätinnen 1971–2019. Chronos Verlag, Zürich 2021. 137 Seiten. 32 Franken