Monatelang nahm man im Iran keine Kenntnis von Salman Rushdies Buch. Eine persische Übersetzung gab es nicht. Dann witterte die Entourage um den sterbenskranken Ajatollah Khomeini die Chance, das Buch als Vorwand zu nutzen, um von der katastrophalen Lage im Iran und der bedrohten Existenz der iranischen Führung abzulenken.
Die Geschichte wiederholt sich nicht. Sie wird nicht, sie darf sich nicht wiederholen. Denn chaotisch, ungewiss, ja demütigend war die Geschichte, wie Ali Chamenei nach Khomeinis Tod zum Führer der Islamischen Republik gehievt wurde.
Diesmal, im Falle des Falles, wird, soll, alles anders laufen. Nichts soll dem Zufall überlassen werden. So sehen es jedenfalls die Pläne vor, deren Konturen Irans politische Szenerie diese Tage bestimmen.
Herzinfarkte
Khomeini stirbt am 3. Juli 1989. Seine Krankheit prägte die Geschichte und die Zukunft der Islamischen Republik massgebend.
Schon ein Jahr nach der Revolution bekommt er einen Herzinfarkt. Er ist zu dieser Zeit in Qom, dem Zentrum der schiitischen Geistlichkeit. Er wolle in dieser Stadt, in der er gelebt und seine Revolution entfacht hatte, bleiben und das Regieren in Teheran anderen überlassen. Er wolle sich nicht in die Alltagspolitik einmischen, sagte er wiederholt vor dem Sieg der Revolution, und seine Vertrauten wiederholten es. Ob es wahr oder «Taqyya» – die schiitische Notlüge – war, sei dahingestellt. Es kam jedenfalls vollkommen anders.
Nach seinem Herzinfarkt wird er in die Hautstadt verlegt. In seiner Residenz im Norden Teherans baut man ein modernes Krankenhaus. Die besten Spezialisten und Fachärzte des Landes betreuen ihn. Khomeini bekommt zwei weitere Herzanfälle, er wird rund um die Uhr beobachtet und kuriert. Nur so kann er die erste Dekade seines Staates erleben und auch gestalten.
Magenkrebs
Im zehnten Jahr seiner «Republik» stellt man bei ihm einen aggressiven Magenkrebs fest, der schnell Metastasen bildet. In seinem letzten Jahr verschwindet Khomeini praktisch aus der Öffentlichkeit, seine Ärzte rechnen mit seinem baldigen Tod. So berichtet es später der Leiter seines Medizinerteams in einem Buch mit dem Titel «Der Heiler der Herzen».
Doch genau zu dieser Zeit werden in seinem Namen historische Entscheidungen getroffen, die das weitere Schicksal der Islamischen Republik bestimmen.
Abgesehen von den Ärzten und seinen engsten Familienmitgliedern haben in diesen Tagen nur vier Personen Zugang zum sterbenskranken Führer. Und diese bestimmen die Politik des Tages und wollen die schwierige Übergangsphase nach dem Ableben Khomeinis vorbereiten und managen. Es sind:
- Ali Akbar Haschemi Rafsandjani, Parlamentspräsident und zu dieser Zeit mächtigster Mann im Staatsapparat. Eine Art Primus inter Pares.
- Khomeinis Sohn Ahmad, der den Vater gern beerben möchte, aber kaum eine Chance hatte.
- Staatspräsident Ali Khamenei, der nur eine repräsentative Funktion innehat. Denn die «Republik» hatte damals einen Ministerpräsidenten, als Chef der Exekutive.
- Ayatollah Schahrudi, Chef des Justizapparates, er wird als Nachfolger Khomeinis gehandelt, hat aber noch wichtige Funktionen in der Justiz zu erfüllen.
Diese vier Personen müssen, solange Khomeini am Leben ist, in seinem Namen schicksalsträchtige Machtworte bekanntgeben, von denen die Zukunft des Regimes abhängt. Denn Khomeini ist die letzte Instanz.
Schierlingsbecher
Als erstes wird das Ende des achtjährigen Krieges mit dem Irak bekannt gegeben. Ein langer Stellungskrieg mit Hunderttausenden Toten und Verletzten – ein Krieg, den Khomeini, bis zur «Befreiung Jerusalems» fortsetzen wollte. Am 20. Juli 1988 lässt man einen Radiosprecher eine dramatische, mehrere Seiten lange Botschaft verlesen, in der Khomeini u. a. verkündet: «Ich sehe mich gezwungen, den Schierlingsbecher zu trinken.»
Dass Khomeini zu dieser Zeit nicht in der Lage war, einen solchen, zum Teil literarischen Text zu verfassen, steht ausser Zweifel. Der omnipotente Rafsandjani, der aus pragmatischen Gründen seit Jahren gegen die Fortsetzung des Krieges war, setzt sich dank Khomeinis Zustand endlich durch.
Damit akzeptiert die Islamische Republik die Resolution 598 des Uno-Sicherheitsrates zu einem Waffenstillstand mit dem Irak. Später werden Radikale behaupten, Rafsandjani hätte Khomeini zu dieser Entscheidung gedrängt.
Massenhinrichtungen
Zwei Tage später überschreiten bewaffnete Mitglieder der iranischen Volksmudjahedin die irakisch-iranische Grenze und marschieren Richtung Teheran, um das Regime zu stürzen. Diese oppositionelle Gruppe, die mehrere Jahre unter der Ägide Saddam Husseins im Irak weilte, glaubte nach Kriegsende, die Unzufriedenheit der Bevölkerung nutzen und in wenigen Tagen die Hauptstadt erobern zu können. Der Versuch scheitert. Und es kommt noch schlimmer.
Drei Tage nach dieser gescheiterten Operation beginnen Massenhinrichtungen. Mehrere tausend Mitglieder der Volksmudjahedin und anderer oppositioneller Gruppen werden umgebracht. Viele sassen bereits seit Jahren in verschiedenen Gefängnissen des Landes.
Nach Angaben von Amnesty International werden innerhalb weniger Wochen 4500 bis 5000 Menschen, darunter viele minderjährige Schüler, hingerichtet. Grundlage dieses beispiellosen Verbrechens ist eine geheime Fatwa, die vom sterbenskranken Khomeini stammen soll. Darin beauftragt er ein dreiköpfiges Komitee, schnell zu handeln. Der jetzige Präsident Raissi war einer von ihnen und ist heute über seine damalige Tat stolz.
Bleierne Zeit
Diese Wochen waren eine bleierne Zeit, deren Schwere selbst für die Islamische Republik beispiellos ist:
- Es herrscht eine allgemeine Enttäuschung über den sinnlosen achtjährigen Krieg mit seinen Hunderttausenden Toten und Verletzten.
- Der Alltag ist von rationierten Lebensmitteln geprägt.
- Die internationale Isolation hat die Wirtschaft ruiniert.
- Die nicht enden wollenden Nachrichten und Gerüchte über Massenhinrichtungen in den Gefängnissen machen die Runde.
- Hinter vorgehaltener Hand werden viele Berichte verbreitet über Leichen. die in den Massengräbern verscharrt werden.
- Die bis an die Zähne bewaffnete Revolutionsgarde, die durch den Krieg immer mächtiger wurde, ist über Nacht praktisch arbeitslos.
- Der alles beherrschende gottähnlicher Führer ist aus der Öffentlichkeit verschwunden, er ist sterbenskrank und hat nur noch wenige Monate zu leben.
- Unter den Geistlichen herrscht eine gnadenlose Rivalität, wer Khomeini beerben soll.
Die Rettung liefert ein Buch
Niedergeschlagenheit, Agonie, wo man auch hinschaut. Die «Republik», die immer von der Strasse und von Massenaufmärschen lebte, war existenziell bedroht.
Was tun? Wie kann man national und international wieder an «Prestige» gewinnen? So wie einst, als man mit der Besetzung der US-Botschaft 444 Tage lang praktisch die Weltpolitik mitbestimmte?
Die Rettung liefert ein Buchtitel: «The Satanic Verses». Der Titel reicht, den Inhalt kennt keiner.
Fortsetzung des pakistanisch-indischen Konflikts
Seit sechs Monaten bewegt dieses Buch in einigen islamische Ländern, vor allem in Indien und Pakistan, die Gemüter. Motor der Proteste sind pakistanische Migranten in England. Denn das Hauptthema des Autors ist wie immer das komplizierte Dasein der Entwurzelten. Der Koran und seine Verse bilden nur eine kleine Passage dieses magischen Romans, der mit einem Flugzeugabsturz in Britannien und zwei durch das Land irrende Inder und Pakistaner beginnt. Wie auch immer. Die radikalen Pakistaner in Grossbritannien sehen im Autor einen Inder, der wieder gegen den Islam zu Felde gezogen ist.
In Grossbritannien kommt es wochenlang zu Bücherverbrennungen, in Pakistan sterben Dutzende Demonstranten. Es war eine Fortsetzung der 70-jährigen pakistanisch-indischen Konflikte (und Kriege). Fünf Monate dauern die Proteste. Von diesen Ereignissen nimmt im Iran niemand Notiz. Die Menschen kämpfen gegen immer unerträglicher werdende Alltagssorgen – und das Regime ist mit seiner eigenen, bedrohten Existenz beschäftigt.
Keine persische Übersetzung
Am Morgen des 21. Januar 1988, sechs Monat nach der Veröffentlichung des Buches und Dutzenden Toten in Pakistan und Indien, verliest ein Teheraner Radiosprecher jene Fatwa im Namen Khomeinis, die bis heute die Welt in Atem hält. Ein Amerikaner mit libanesischen Wurzeln fühlte sich jüngst berufen, zum Vollstrecker dieser Fatwa zu werden – er, der zehn Jahre nach dem Erlass des Todesaufrufs von Khomeini zur Welt gekommen ist.
Khomeini hat das Buch von Salman Rushdie nie gesehen, geschweigen denn gelesen. Selbst wenn er es hätte lesen wollen, hätte er es nicht tun können, es gab keine persische Übersetzung und Englisch konnte er nicht. Er sprach nicht einmal fehlerfrei Persisch.
Geglückte Propaganda
Ob er überhaupt in der Lage war, das Ausmass dessen zu verstehen, was diese Fatwa in der Welt auslöste, darf man ebenfalls bezweifeln. Wie auch immer. Die Propagandaexperten der «Republik» sind am Ziel. Wieder spricht die Welt vom revolutionären Iran.
Die Strassen in den islamischen Länder sind mobilisiert, die ehrwürdige Al Azhar in Kairo, die Regierung in Saudi-Arabien und die islamische Konferenz melden sich zu Wort und verurteilen den Autor.
Nicht das Buch erscheint, sondern die Kritik an ihm
Plötzlich stellen die Hintermänner dieser weltbewegenden Kampagne fest, dass eine persische Übersetzung der «Satanischen Verse» gar nicht existiert. Wie und wann wurde das Buch übersetzt? Dazu konnte man am Montag dieser Woche etwas Interessantes lesen. Im Zuge der weltweiten Diskussion über das Messerattentat auf Salman Rushdie beschrieb ein ehemaliger Redaktor der Teheraner Zeitung «Die Islamische Republik», wie die persische Übersetzung der «Satanischen Verse» angefertigt wurde. Herausgeber der Zeitung ist Ali Chamenei.
Eine Woche nach der berühmt-berüchtigten Fatwa, über die inzwischen die ganze Welt spricht, kommt der Chefredaktor der Zeitung in die Redaktion und nimmt sich drei Redaktoren der Auslandnachrichten vor und gibt jedem von ihnen einen Drittel der «Satanischen Verse». Er verlangt von jedem, seinen Anteil innerhalb einer Wochen zu übersetzen. Parallel dazu macht sich ein versierter Schreiberling daran, eine persische Kritik zu dem Buch zu verfassen. Auf dem Markt erscheint dann nicht das Buch selbst, dafür aber die bestellte Kritik in Millionen Exemplaren.
Letztes Hindernis: Ayatollah Montazeri
Die vier Männer, die den kranken Khomeini umgaben, hatten ganze Arbeit geleistet.
Acht Wochen vergehen, nun mussten sie im Namen Khomeinis das letzte Hindernis beseitigen. Es ging darum, Ayatollah Montazeri auszuschalten, den Khomeini «Früchte meines Lebens» genannt hatte und der offiziell sein Nachfolger war.
Am 21. März 1989 verliest wieder ein Radiosprecher einen Brief Khomeinis, in dem er Montazeri wegen Naivität als ungeeignet erklärt, sein Nachfolger werden zu können. Montazeri hatte sich erlaubt, Massenhinrichtungen der Gefangenen und die Fatwa gegen Salman Rushdie zu kritisieren.
Drei Monate später stirbt Khomeini. Man hatte zunächst von einer Chemotherapie abgesehen, weil man kein Bild von Khomeini ohne Bart und Haare der Öffentlichkeit präsentieren wollte.
Als man sich schliesslich doch für eine Chemotherapie entscheidet, ist es für Ruhollah Khomeini zu spät. Bei einer zweiten Infusion bekommt er wieder einen Herzinfarkt. Am 3. Juli 1989 verkündet ein schluchzender Radiosprecher, der Geist und Gott würden vereinigt. Ruhollah bedeutet Geist Gottes.