Das Vorspiel ist zu Ende: Am vergangenen Sonntag wurden sechs Personen als Kandidaten für die bevorstehende Neuwahl des iranischen Präsidenten vorgestellt. Die Prozedur der Nominierung durchlief wie üblich verschiedene Geheimdienstinstanzen. Die Auswahl dient einem wichtigen Ziel: dem reibungslosen Übergang zur Post-Khamenei-Zeit.
«Die strategische Tiefe» – das ist der Massstab schlechthin; eine ewige Richtschnur, die jedem den Weg weist. Vor allem demjenigen, der sich anschickt, der nächste Präsident der «Republik» zu werden. Nach dem Hubschrauberabsturz des iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi war gerade eine Woche vergangen, seine Leiche hatte man in dieser Zeit quasi durch das ganze Land transportiert und dabei von Menschenmassen begleiten lassen, bis sie in seiner Heimatstadt Maschhad neben einem schiitischen Imam der Erde anvertraut wurde.
Wie und warum der Präsident tatsächlich starb, bliebt dabei ebenso im Dunkeln wie vieles andere in diesem staatsähnlichen Gebilde. Die offiziellen Trauertage, in denen allerdings nicht alle trauerten, sondern manche sogar aus Freude auf den Strassen tanzten, waren nach fünf Tagen vorbei. Damit war für den mächtigsten Mann des Landes nun die Zeit gekommen, mitzuteilen, wie sein nächster Präsident zu sein hat.
Ein zweiter Raisi?
Ali Khamenei ist ein versierter Prediger, er kann mit Sprache sehr gut umgehen. Dass er es so weit gebracht hat, verdankt er zum grossen Teil seiner Rhetorik. Also begann er an diesem Tag mit seinem Lieblingsthema: Palästina. Mit ebenso blumiger wie polemischer Sprache beschrieb er ausführlich die Tragödie unserer Tage. Und wie immer landete er bei den USA und den übrigen westlichen Mächten. Oft subsumiert er alle diese Länder unter einem einzigen Wort: der Feind, der die Quelle aller Übel dieser Welt sei, man brauche sich nur seine blutige Spur im geliebten Palästina anzuschauen.
Auch für die Engpässe, die Teuerungen, die Knappheiten, die Arbeitslosigkeit, die Unzufriedenheit, kurz: für alle Miseren und Mühsal im Land sei der Feind der eigentlich Verantwortliche. Hier baute Khamenei dann seine Brücke zur «strategischen Tiefe», die nichts anderes zum Ziel habe als die Bekämpfung dieses Feindes. Erst nach dem Sieg könne man auf Besserung hoffen. Sein Fazit am Ende: Es werde einen Präsidenten geben, der wie der Verstorbene auch alle seine Kräfte der «Strategie» widmen werde, politisch, wirtschaftlich und vor allem kulturell, innen- wie aussenpolitisch.
Die Gardisten bestimmen
Soll der nächste Präsident also ein zweiter Raisi sein, in dessen noch regierendem Kabinett hauptsächlich «Strategen» sitzen, die allesamt Ex- oder aktive Kommandeure der Revolutionsgarden, vor allem der Quds-Brigaden, sind? Unmissverständlich ja. Damit hat der mächtigste Mann des Iran die Latte gelegt, über die die Präsidentenanwärter springen müssen.
Zwei Tage nach Khameneis Rede trat Innenminister Vahidi vor die Presse und zählte die Modalitäten auf, die die Kandidaten bei der Registrierung durch sein Ministerium zu beachten hätten. Vahidi ist im Kabinett Primus inter Pares, er war der erste Kommandant der Quds-Brigaden, sein Name steht auf der Liste der Interpol wegen eines Bombenanschlags mit 85 Opfern auf eine israelische Kultusgemeinde vor 30 Jahren.
Hunderte zum Teil kaum bekannte Bewerber meldeten sich, 80 von ihnen bekamen von Vahidis Ministerium die vorläufige Erlaubnis, sich eine Woche lang Präsidentschaftskandidat nennen zu dürfen, also solange, bis der mächtige Wächterrat die endgültige Entscheidung über die zugelassenen Kandidaten bekannt gibt. Gesetzlich hat der Rat fünf Tage Zeit für diese Entscheidung.
Und am vergangenen Sonntag war es so weit – Mohammad-Bagher Ghlibaf, Alireza Zakani, Mostafa Pourmohammadi.
Eine Horrorliste
Dieser Rat, in dem zwölf von Khamenei ausgesuchte Ultrakonservative sitzen, wird von einem 92-jährigen Ayatollah geführt. Die Lehnsmänner gelten als Wächter im wahrsten Sinne des Wortes. Und an diesem Tag gaben sie sechs Namen bekannt, die auf der Wahlliste stehen dürfen – Mohammad-Bagher Ghalibaf, Amir-Hossein Ghazizadeh, Said Jalili, Masoud Pezeshkian, Mostafa Pour-Mohammadi, Alireza Zakani. Die Abgelehnten dürften nicht protestieren, warnte am gleichen Tag der Sprecher des Innenministeriums.
Und diese endgültige Liste hat es in sich, sie sagt viel darüber aus, wie man Khameneis «strategische Tiefe» zu verstehen hat: Es stehen darauf drei Ex-Kommandanten der Revolutionsgarden, ein Mullah, der mit dem verstorbenen Raisi 1988 innerhalb von wenigen Wochen mehrere Tausend Todesurteile gegen politische Gefangene gefällt hat, und ein tief fundamentalistischer Arzt, der die wirtschaftlich omnipotente «Märtyrerstiftung» führt.
Ein Reformer als Beiwerk
Auf dieser Liste steht auch ein weiterer Arzt, den man mit viel Mühe dem Reformerlager zurechnen könnte – Pezeshkian. Sein Name soll die versprengten Restreformer zu den Urnen locken und die seit Jahren sinkende Wahlbeteiligung ein bisschen anheben. Bei der letzten Parlamentswahl pendelte sie in Teheran zwischen sieben und acht Prozent.
Doch mit seiner vorgelegten Kandidatenliste demonstriert Khamenei vor allem eins unmissverständlich: Die Legitimierung des künftigen Präsidenten durch das Volk ist nicht seine Priorität. Das einzig dringende, manche sagen: sehr eilige Vorhaben des 85-Jährigen ist die Regelung seiner Nachfolge. Alle Schachzüge, die er in den kommenden Monaten auf dem Spielbrett tätigt, stehen unter dem Zeichen des befürchteten Diadochenkampfs. Das kommende Wahltheater, das in zwei Wochen über die Bühne geht, ist nur ein Puzzlestück in dieser grossen Planung.
Die Revolution frisst ihre Väter
Unter den «Ungeeigneten», deren Kandidatur abgelehnt wurde, befinden sich: ein Ex-Präsident, ein Ex-Vizepräsident, ein Ex-Parlamentspräsident sowie drei amtierende und vier ehemalige Minister. Sie alle wurden vom Wächterrat für ungeeignet befunden, auf der Wahlliste zu stehen. Ali Khamenei, das am längsten herrschende Staatsoberhaupt der jüngeren iranischen Geschichte, hat etwas Entscheidendes aus seinem politischen Leben gelernt: Die islamische Revolution frisst nicht nur ihre Kinder, sondern auch ihre Väter.
Was mit den Angehörigen der Revolutionsväter geschehen ist, weiss niemand besser als Ali Khamenei selbst: Die Familie des «Republik»-Gründers Ruhollah Khomeini ist entmachtet und isoliert, die Kinder Hashemi Rafsanjanis sind entweder in Haft oder von allen Machttöpfen abgeschnitten. Rafsanjani, der einst alles Bestimmende, war übrigens derjenige, der Khamenei unterschätzte und ihn auf den Führerstuhl hievte. Unterschätzte darf man nie unterschätzen.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal