
Es waren phantastische Bilder damals. Die Sonne war eben über Ostafrika aufgegangen. Vom Meer her näherten sich gigantische Luftkissenboote der somalischen Küste. CNN war schon dort. Jeder Hollywood-Streifen hätte es nicht grossartiger inszenieren können.
Es war der 9. Dezember 1992. 1800 amerikanische Marinesoldaten brachten Hilfe in den hungernden, vom Bürgerkrieg zerrissenen «failed state» am Horn von Afrika. «Operation Restore Hope» hiess diese gigantische Hilfsaktion, mit der sich der abgewählte amerikanische Präsident George H. Bush (der Vater von George W.) während seiner letzten Amtstage noch ein Denkmal setzen wollte.
Doch nicht nur Marine-Infanteristen kamen: Dutzende Fernsehcrews, Hunderte Journalistinnen und Journalisten schaukelten die Hilfsaktion hoch. Die Welt wurde überschwemmt mit Berichten und Reportagen.
CNN, das im Golfkrieg 1990/91 erstmals weltweit bekannt wurde, wollte sich hier als führender Newssender bestätigen. Nach CNN kamen all die anderen: ABC, NBC, CBS, TF1, BBC – auch Reuters, Associated Press und Agence France Press. Die New York Times war da, Le Monde auch. Die Hilfsaktion wurde zum Medienspektakel.
Gepuderte TV-Stars
Die grossen Fernsehstars wurden eingeflogen. Die Amerikaner berichteten rund um die Uhr. Fast stündlich: «Breaking News». Tonnenweise Material wurde angeschleppt. Schnittplätze wurden eingerichtet. Dutzende Kilometer Kabel wurden verlegt. Überall Parabolspiegel. Auf dem Sand wurden Schminkstudios eingerichtet. Maquilleusen puderten die schwitzenden Stars. Helikopter flogen die Kameracrews ins Hinterland. Fast jeder und jede, die hungerten, gerieten irgendwann vor irgendeine Kamera.
Zwei Monate lang zeigten die Amerikaner, was für gute Menschen sie sind. «Wir tun Gottes Werk», sagte George H. Bush.
Das war vor dreissig Jahren. Und heute?
Drohende humanitäre Katastrophe
Somalia wird zurzeit von der schlimmsten Dürrekatastrophe seit einem Jahrzehnt heimgesucht. In einem eben veröffentlichten Aufruf warnt die internationale Hilfsorganisation «Save the Children» vor einer humanitären Katastrophe. Millionen Menschen würden in Somalia hungern. Hunderttausende sind gezwungen, ihre Häuser auf der Suche nach Wasser und Nahrung zu verlassen.
Doch diesmal ist CNN nicht vor Ort: Keine Schminkstudios, keine Luftkissenboote, keine Parabolspiegel, keine schwitzenden Stars unter der glühenden ostafrikanischen Sonne. Die Katastrophe findet fast im Verborgenen statt.
Schuld ist der Klimawandel
Nach 2011/12 und 2016/17 ist es jetzt die dritte Dürreperiode in diesem Jahrzehnt – allerdings die schlimmste. Zum vierten Mal ist jetzt die Regenzeit ausgeblieben.
«Schuld ist vor allem der Klimawandel», sagt Mohamud Mohamed, der Landesdirektor von Save the Children in Somalia. «Das Land hatte schon immer Dürren, und die Somalier wussten schon immer, wie man damit umgeht.» Doch jetzt würden die Abstände zwischen den Dürren immer kürzer.
Kühe, die darauf warten, zu sterben
Siebzig Prozent der Familien haben nicht genug zu essen. Ebenfalls siebzig Prozent haben keinen Zugang zu sauberem Wasser.
Innerhalb von zwei Monaten starben fast 700’000 Kamele, Ziegen, Schafe und Rinder. (Siehe auch: Journal21: Wenn selbst Kamele sterben.) Ein Helfer von Save the Children berichtet: «Wir haben abgemagerte Kühe gesehen, die ohne Futter dastanden und nur darauf warteten, umzufallen und zu sterben. Überall im Lager liegen Tierkadaver herum.»
Kein Essen, kein Wasser
Binyam Woldetsdaik Gebru, Direktor für Programmentwicklung von Save the Children, zitiert einen örtlichen Gemeindevorsteher. Der berichtet, allein in Dhobley, einer Ortschaft im Südwesten Somalias, seien zehntausend Menschen vertrieben worden. «Wir trafen Mütter und Kinder, die weder Nahrung noch Unterkunft hatten – sie sassen in der sengenden Sonne in einem Lager, das direkt auf dem Äquator liegt.»
Eine Bäuerin namens Fatuma berichtet den Helfern von Save the Children, dass sie nach einem zweitägigen Fussmarsch ins Lager gelangt sei. «Ich kann nicht mehr in mein Leben auf dem Land zurück. Ich habe mein ganzes Vieh verloren, und ich habe nichts, um zurückzukehren. Wir haben kein Essen und kein Wasser», erzählt sie.
Terror, Machtkampf
Doch die Dürre ist nicht das einzige Übel, mit dem der ostafrikanische Staat konfrontiert ist. Zum Hunger kommt die Gewalt. Seit Jahrzehnten wird Somalia von der radikalislamistischen Miliz Al-Shabab terrorisiert. Immer wieder werden Sprengstoffattentate verübt, so auch im Januar in der Hauptstadt Mogadischu.
Am 16. Januar wurde ein Selbstmordattentat auf den somalischen Regierungssprecher verübt. Er überlebte schwer verwundet. Al-Shabab ist eine mit Al-Qaida verbundene Terrorgruppe.
Nicht genug: Seit Monaten findet im Land ein Machtkampf zwischen dem Staatspräsidenten und dem Premierminister statt. Beide werfen sich Korruption und Putschversuche vor. Beide verfügen über Armee-Einheiten und Milizen. Der Machtkampf hat Zehntausende in die Flucht getrieben.
Hunger, Terror, Corona, Aids
Und ausgerechnet jetzt finden Wahlen statt. Der Streit zwischen dem Präsidenten und dem Premierminister führte auch dazu, dass die geplante Neubestellung des somalischen Unterhauses immer wieder verschoben wurde. Übernächste Woche, am 25. Februar, soll nun der Wahlprozess abgeschlossen sein. Es ist zu befürchten, dass die Schlussphase der Wahlen weitere gewaltsame Zusammenstösse bringen wird.
Während Somalia hungert, unter Corona und Aids leidet und von Al-Shabab terrorisiert wird, streiten sich der Staatspräsident und der Ministerpräsident um die Macht. Doch gerade jetzt, wo der Hunger immer dramatischere Folgen annimmt, wäre eine starke Führung notwendig – eine Führung, die die Hilfe koordiniert.
Denn das Schlimmste könnte erst bevorstehen. «Wenn nicht schnell geholfen wird», erklären die Hilfsorganisationen, «gerät die Situation im kommenden März ausser Kontrolle.» Dann könnte das grosse Sterben beginnen. Doch CNN ist nicht da, die Welt wird kaum davon erfahren. Wie oft in Afrika: Gestorben wird im Stillen.