Am 7. November 1917 (nach dem damaligen julianischen Kalender war es der 25. Oktober) ist unter Lenins und Trotzkis Führung in St. Petersburg der Putsch gegen die damalige provisorische Regierung unter Kerenski eingeleitet worden – mit schnellem Erfolg. Der hundertste Jahrestag jenes weltpolitisch einschneidenden Ereignisses wird im heutigen Russland nicht mehr mit pompösen Paraden vor versammelter Kremlprominenz auf der Tribüne des Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau gefeiert.
Religiöser Obskurantismus?
Doch Lenins einbalsamierte Leiche bleibt am prominentesten Platz des russischen Riesenlandes weiterhin präsent. Der 1924 verstorbene Revolutionsführer dämmert in seiner Gruft gut bewacht vor sich hin, wenn Präsident Putin oben auf dem Balkon der marmornen bolschewistischen Grabstätte am 9. Mai den vorbeimarschierenden Kolonnen der russischen Streitkräfte zum Tag des Sieges im Grossen Vaterländischen Krieg zuwinkt.
Eine Bestattung in russischer Erde des regelmässig und aufwendig präparierten Lenin-Leichnams ist zwar unter Putins Vorgänger Jelzin eine Zeitlang ernsthaft erwogen worden. Aber der jetzige Machthaber im Kreml hält offenkundig die Zeit noch nicht für gekommen, „Lenin aus seiner Mumienexistenz zu befreien und seine sterblichen Überreste nach St. Petersburg ins Grab seiner Familie zu überführen“, wie der Russland-Experte Karl Schlögel in einem neuen Buch „Das sowjetische Jahrhundert“ schreibt.
Dieser Verzicht – oder die wie immer gearteten Hemmungen – den Leichnam eines Revolutionsführers, von dessen Ideologie und sowjetischer Staatskonstruktion man sich vor immerhin 26 Jahren offiziell losgesagt hat, dem Erdreich zu übergeben, lässt tief in die bewusstseinsmässigen Kontinuitäten und Widersprüche der russischen Machtelite und Massen blicken. Solche Ungereimtheiten galten übrigens schon für die Entscheidung der bolschewistischen Machthaber, Lenins Leichnam einbalsamiert in einem Mausoleum zu konservieren. Denn ursprünglich hatten die kommunistischen Revolutionäre derartige Totenrituale als religiösen Obskurantismus angeprangert.
Neues Mahnmal für Opfer des Stalinismus
Eindeutig und exklusiv sind die Anknüpfungen des Putin-Regimes an die Macht- und Traditionssymbole des untergegangenen Sowjetreiches allerding nicht. Putins Geschick als autoritärer Herrscher (oder „neuer Zar“, als den ihn unlängst der britische „Economist“ auf der Titelseite abbildete) besteht gerade darin, dass er bestrebt ist, alle berühmten Namen, die im Guten wie im Schlechten in die russischen Geschichte eingegangen sind, zu einem heroisch untermalten nationalen Epos zusammenzufügen. Das Panorama reicht von Wladimir dem Heiligen über Iwan den Schrecklichen, Peter den Grossen, Katharina der Grossen, Nikolaus dem II. bis zu Lenin, Stalin und Breschnew. Mit dem einen oder andern dieser vaterländischen Glanz- und Leidenselemente gelingt es dem Kremlherrscher und seinen Propagandisten, ein weites Spektrum des russischen Vielvölkerstaates anzusprechen und dessen Seele zu rühren.
So hat Putin erst dieser Tage in Moskau ein neues Mahnmal für die Opfer des Stalinismus eingeweiht. Auf einer hohen Bronzeplatte, als „Mauer der Trauer“ bezeichnet, sind in 23 Sprachen die Worte „Erinnern wir uns“ eingeritzt. Die Gedenkstätte soll offenkundig auch an den 80. Jahrestag des Terrorjahres 1937 erinnern, den Höhepunkt der Stalinschen Säuberungswelle gegen angebliche „Volksfeinde“.
Putins Wiederwahl – praktisch gesichert
Doch diese Verneigung vor den millionenfachen Opfern der Stalin-Repression hindert das Putin-Regime wiederum nicht, die sich ausbreitende Popularität des stählernen Diktators und seiner „starken Hand“ wohlwollend zu tolerieren oder gar unterschwellig zu fördern. Laut einer Umfrage des regierungsunabhängigen Lewada-Zentrums haben sich zu Beginn dieses Jahres 46 Prozent der befragten Russen positiv über den blutigen Tyrannen geäussert. 2012 hatten sich erst 28 Prozent in diesem Sinne ausgesprochen. Putin wird das als Wasser auf seine eigenen national-autoritären Mühlen einschätzen – solange seine eigene Popularität laut den russischen Medien weiterhin die höchsten Werte erreicht.
Angesichts solcher Stimmungsbilder lässt sich praktisch risikolos voraussagen, dass Putin im März des kommenden Jahres vom russischen Wahlvolk erneut für eine sechsjährige Präsidentschaft gewählt werden wird. Die Mehrheit wäre auch ohne die üblichen Manipulationen und ohne durchsichtige Ausschlussmanöver wie die sich abzeichnende Kandidatur-Verhinderung des unerschrockenen Herausforderers Alexei Nawalny nicht gefährdet. Bleibt also für die nächsten Jahre in Russland alles beim Alten?
„On s’engage, puis on voit“
Profunde Kenner der russischen Verhältnisse vertreten da streckenweise unterschiedliche Meinungen. So äusserte zum Beispiel der renommierte russische Schriftsteller Michail Schischkin, der seit Jahren in der Schweiz wohnt, aber immer wieder in seine Heimat zurückkehrt, unlängst in einer Podiumsdiskussion in Zürich die resignierte Ansicht, dass sich in absehbar Zeit in seiner Heimat kaum Grundlegendes ändern werde. Bezugnehmend auf sein historisches Wissen und auf Erfahrungen aus seiner Familiengeschichte sieht er wenig Hoffnung, dass in Russland echte demokratische Entwicklungen tiefere Wurzeln schlagen werden. Das Riesenland sei und bleibe aller Wahrscheinlichkeit nach ein autoritär regiertes, von Korruption durchsetztes Staatsgebilde.
Der deutsche Russlandkenner Karl Schlögel, der seit Jahrzehnten über dieses Land und seine Geschichte forscht, setzte bei der gleichen Diskussion etwas andere Akzente. Er hält die Entwicklungen in Russland, ebenso wie allgemein in der Geschichte, für nicht vorhersehbar. Schliesslich habe bis kurz vor dem Ereignis Anfang der neunziger Jahre auch niemand mit dem raschen Zusammenbruch des Sowjetimperiums gerechnet. In dieser Hinsicht neigt Schlögel der – nach der Machteroberung schriftlich festgehaltenen – Erkenntnis Lenins zu, der sich wiederum auf ein Diktum Napoleons berief: „On s’engage, puis on voit.“ Will heissen: Man weiss nie, wie es weitergeht, wenn man sich in den Kampf wirft.
Ulitzkajas Urteil
Ljudmila Ulitzkaja, die gegenwärtig bekannteste und erfolgreichste russische Schriftstellerin, ist von den Zuständen in Putins Russland ebenfalls enttäuscht. In einem Aufsatz im „Spiegel“ erklärte sie 2014: „Unser Land ist krank.“ Sie fürchte, dass sich Russland immer weiter von der Familie der europäischen Völker entferne. Auch der grossen russischen Kultur mit Tolstoi, Tschechow, Schostakowitsch usw. gelinge es leider nicht, Halt zu bieten gegen die Politik der verdeckten „Macht der Verrückten“.
Aber die Schriftstellerin ist auch bereit, dieses trübe Bild zu relativieren. In einem Interview mit der NZZ räumte sie ein, dass es heute in Russland nicht mehr Millionen politischer Häftlinge gebe wie in der Stalin-Zeit, sondern nur einige Dutzend. Der Eiserne Vorhang existiere nicht mehr und „mir wird nichts passieren, wenn ich nach Russland zurückkehre“. Sie sei dort als Kritikerin des Putin-Regimes nur als „Vertreterin der fünften Kolonne“ beschimpft worden. Das Land lebe heute viel freier als unter der Sowjetmacht.
Fazit: Hundert Jahre nach der Oktoberrevolution, deren Anführer einst Freiheit, Fortschritt und Erlösung von Ausbeutung nicht nur für das eigene Volk, sondern für den ganzen Globus verheissen hatten, bietet Russland eine vielschichtige Realität. Der Kommunismus wurde begraben, aber regiert wird das Land weiterhin wie zur Zaren- und zur Sowjetzeit von einem Autokraten und früheren KGB-Funktionär mit expansiven Gelüsten (siehe die andauernde militärische Einmischung in der Ukraine).
Es könnte noch eine geraume Weile dauern, bis der Leichnam Lenins aus seinem Mausoleum entfernt wird.