Während Unsicherheit die Lage bei der Flüchtlingspolitik und in der Aussenpolitik prägt, macht sich wirtschaftlich Zuversicht breit? Ist die Krise damit vorbei?
Die Antwort des Ökonomen ist wie immer: Es kommt darauf an. Nach Jahren des Einbruchs wächst das Land wieder recht kräftig – schon unter der Vorgängerregierung von Alexis Tsipras (radikale Linke SYRIZA) während zwei Jahren, aber auch im Jahr 2019 voraussichtlich um etwa 2%. Finanzminister Christos Staikouras rechnet für 2020 sogar mit einem Plus von 2,8% und ist damit optimistischer als die EU-Kommission, die 2,3% prognostiziert und die griechische Notenbank, die von 2,4% ausgeht. Wenn man Krise mit Rezession gleichsetzt, dann ist die Krise tatsächlich vorbei, denn der Patient ist nicht gestorben, er ist nur abgemagert, er ist spindeldürr, nimmt aber wieder zu.
Griechenland hat aber – und das ist die andere Seite der Medaille – einen riesigen Nachholbedarf. Während den Krisenjahren 2008 bis 2016 verlor das Land mehr als einen Viertel seiner Wirtschaftskraft – mit allen Konsequenzen für die Bevölkerung. Ich wurde vor einigen Jahren gefragt, wann das Vorkrisenniveau wieder erreicht würde. „Nach einer Generation“, antwortete ich – in 25 Jahren. Wenn man davon ausgeht, dass ich diese Prognose vor etwa sechs Jahren abgab, und damit rechnet, dass die optimistischen Wachstumsraten von Staikouras über mehr als 10 Jahre ständig durchgehalten werden können, dann wird das vielleicht in gesamthaft 20 Jahren zu schaffen sein – in der ersten Hälfte der 2030er Jahre. Das kommt den 25 Jahren sehr nahe.
Mitsotakis’ Poker
In der Silvesternacht wird in Griechenland besonders intensiv dem Glücksspiel gehuldigt. Glückspilz in der Silvesternacht, Glückspilz im neuen Jahr. Einen besonderen Poker hat sich die seit dem Sommer amtierende Regierung des Nea-Dimokratia-Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis ausgedacht. Sie hat optimistische Ziele für die Wirtschaft vorgegeben. Das Budget für 2020, das noch rechtzeitig im Dezember verabschiedet wurde, verspricht Steuersenkungen, Strukturreformen und Investitionsförderung – so will die Regierung das Wachstum stimulieren. Die Unternehmensgewinnsteuer sinkt von 28 auf 24%, die Dividendenbesteuerung von 10 auf 5% und bei der Einkommensbesteuerung werden die ersten 10’000 Euro nur noch mit 9 anstatt mit 22% besteuert. Die Mehrwertsteuer auf Immobilienkäufe wird bei Neubauten auf drei Jahre ausgesetzt. Und – sehr wichtig in Griechenland, weil das Eigenheim die wichtigste Wertanlage ist – die unbeliebte Immobiliensteuer ENFIA wird spürbar gesenkt.
Besonders glücklich sind ab 1. Januar frisch gebackene Eltern: Das Kinderkriegen wird mit 2000 Euro belohnt – Griechenland hat eine der niedrigsten Geburtenraten von ganz Europa. Das wird das Rentensystem früher oder später wieder auf die Probe stellen. Auch die Mehrwertsteuer auf Babyartikeln wird halbiert. Auch Privatisierungen kommen wieder aufs Tapet.
Diese Steuersenkungen sind sicher willkommen. Gerade die Besteuerung von tiefen Einkommen mit 22% war grotesk und lud geradezu zu Schwarzarbeit ein. Allerdings ist die grosse Frage, wie Griechenland trotz Steuersenkungen die Sparvorgaben der Gläubiger einhalten wird. Griechenland ist zwar nicht mehr unter dem Rettungsschirm, seit die letzte Darlehensvereinbarung im August 2018 ausgelaufen ist, aber das Land muss die Vorgaben der Gläubiger trotzdem jederzeit einhalten. Diese Vorgaben sehen für 2020 einen extrem hohen Primärüberschuss (Haushaltsüberschuss ohne Zinsen und Amortisationen) von 3,5% vor. Die Regierung hat jüngst bekräftigt, dass sie sogar 3,6% erwirtschaften wird, was extrem ambitiös ist.
Nächstes Jahr will der Ministerpräsident mit den Gläubigern aber eine Lockerung aushandeln, um Spielraum für weitere Steuersenkungen zu gewinnen. Die hohen Überschüsse, so sagt die Regierung, sollen Griechenlands Schuldentragfähigkeit verbessern. Sie behindern aber das Wirtschaftswachstum und seien unnötig, weil das Land sich bereits jetzt am Markt dank der sehr tiefen Zinsen billiger refinanzieren könne als erwartet. Ob die Ziele erreichbar sind, wird sich daran entscheiden, ob das Wirtschaftswachstum wie vorgesehen zulegt und ob es gelingt, den Betrag, der für den Schuldendienst ausgelegt wird, weiter zu senken. Gelingt es, kann Mitsotakis’ Poker aufgehen, gelingt es nicht, werden die früheren Geldgeber auf Sparmassnahmen pochen, die ihrerseits wieder das Wachstum bremsen würden.
Und der Schuldenberg? War da was?
„Das deutsche Geld ist weg, egal wer in Griechenland regiert. Kein deutscher Politiker will es laut sagen, all die Kredittranchen, deutsches Steuergeld, ist weg.“ So kommentierte jemand einen früheren Beitrag von mir zum Thema griechische Wirtschaftskrise. Was ist dazu zu sagen? Vor Ausbruch der Krise im Jahr 2008 sass Griechenland auf einem Schuldenberg von 127% des Bruttoinlandproduktes, das heisst der Wirtschaftsleistung. Während der Krise stieg diese Schuldenquote ständig an, bis auf 181%. 2019 sollen die Schulden erstmals sinken – auf 173% und 2020 auf 168%. Das sind die Prognosen. Bis zu den 60%, die der Maastricht-Vertrag zulässt, ist es noch ein weiter Weg. Ausserdem haben Ökonomen eine Faustregel aufgestellt, wonach ein Schuldenstand von mehr als 90% auf die Länge nicht nachhaltig ist. Diese Regel ist allerdings sehr grob. Sie zieht nicht in Erwägung, ob die Schulden in eigener Währung gehalten werden, ob es Inlandschulden sind und wie es um die Refinanzierungskosten steht.
Das wichtigste Kriterium bei der Beurteilung, ob Schulden tragfähig sind, ist der Zins, der dafür bezahlt wird. Wenn Staatsanleihen ablaufen oder vorzeitig zurückbezahlt werden, müssen sie in der Regel refinanziert werden, das heisst: neues Geld wird aufgenommen zu neuen Bedingungen, sprich: zum dannzumal gültigen Zins. Hat ein Land hohe Schulden und ändern sich die Zinsen brüsk, dann verschlechtert sich die Schuldentragfähigkeit in rasendem Tempo. In den Jahren 2008 und 2009 wurde die hohe Verschuldung plötzlich als Problem wahrgenommen und die Risikozuschläge stiegen. Das führte zu einer Abwärtsspirale die im März 2010 zum Staatsbankrott führte, das heisst Griechenland war nicht mehr fähig, aus eigener Kraft auslaufende Staatsanleihen zu refinanzieren.
Im Moment ist das Gegenteil dieser Abwärtsspirale im Gang. Die Vorgängerregierung Tsipras fand beim Amtsantritt im Januar 2015 komplett leere Kassen vor. In starkem Kontrast dazu fand bei der Stabsübergabe im Sommer 2019 Nachfolger Mitsotakis einen Puffer, eine Reserve von etwa 20 Milliarden Euro vor. Das heisst: das Land ist für etwa zwei Jahre durchfinanziert und nicht auf die Finanzmärkte angewiesen. Diese verbesserte finanzielle Lage führte zu unverhofft tiefen Zinsen an den Märkten. Das geht so weit, dass die Zinsen an den Märkten heute günstiger sind als die Zinsen, die der Internationale Währungsfonds (IWF) im Rahmen der Rettungsprogramme Griechenland verrechnet hat. So hat Griechenland 2019 diese Darlehen gekündigt und günstig refinanziert. Damit spart das Land einen erklecklichen Betrag.
Was heisst nun das? Gibt es Entwarnung in Bezug auf die griechischen Schulden? Nicht ganz. Dreht die Spirale in die andere Richtung und steigen die Risikozuschläge stark an – das braucht gar nichts mit Griechenland zu tun haben (stark erhöhte Rohstoffpreise, Italien gerät in Zahlungsverzug) – dann wird der Zustand zwar nicht mehr sofort bedrohlich, aber wenn der Puffer aufgebraucht ist, wird die Lage sofort kritisch.
Deutschland hat bisher gar nichts bezahlt
Und was ist mit dem deutschen Steuergeld, das gemäss der Kommentatorin unwiderruflich weg ist? Nichts dergleichen ist bisher geschehen und der deutsche Steuerzahler hat bisher auch gar nichts bezahlt – auch wenn in Deutschland das Gegenteil behauptet wird. Der Euro-Rettungsschirm hat an den Märkten das Geld aufgenommen, das er dann an Griechenland ausgeliehen hat – mit einer Garantie der Euroländer versehen. Dieser Garantie wegen sind diese Darlehen günstig. Und die Euroländer kassieren dann von Griechenland Zinsen. Natürlich kann es bei einem oben beschriebenen Szenario passieren, dass eine solche Garantie eingelöst werden muss, sonst hätte es sie nicht gebraucht. Aber bisher ist das nicht geschehen und für die nächsten Jahre auch nicht wahrscheinlich. Deutschland hat für Griechenland entgegen einer landläufigen Meinung zwar eine Garantie abgegeben, aber bisher gar nichts bezahlt, Griechenland für Deutschland aber schon – Zinsen. Und das muss doch zum Jahreswechsel einmal gesagt werden. Der Schuldenrucksack Griechenlands ist noch da. Aber er drückt nicht mehr so schwer, weil die Zinsen sinken und die Vorgängerregierung den Staatshaushalt stark konsolidiert hat. In Griechenland haben die Linken den Rechten gezeigt, wie man seriös wirtschaftet.