Unmittelbar nach der Vereidigung des neuen iranischen Präsidenten Massoud Pezeshkian wurde Hamas-Chef Ismail Haniya in Teheran ermordet – offenbar von Israel. Eine Blamage für die Teheraner Machthaber, eine Demütigung historischen Ausmasses. Die Islamische Republik scheint zur Rache entschlossen, ein neuer Waffengang gegen Israel ist nicht auszuschliessen. Zudem ist damit alles, was der neue Präsident versprochen hatte, vorerst obsolet.
Wenige Stunden vor seinem Tod sass Ismail Haniyya, das weltweit bekannteste Gesicht der palästinensischen Hamas, im Büro von Ali Khamenei, dem mächtigsten Mann Irans. Die üblichen Sicherheitsmassnahmen für einen solchen Besucher an einem solchen Ort übersteigen die Vorstellungen Normalsterblicher. Danach wurden der Gast und seine Entourage in einer Villa im Stadtteil جانبازان – zu Deutsch «lebende Märtyrer» – im Norden Teherans untergebracht. Das ist der Bezirk, wo auch die bestgeschützten Offiziere der Revolutionsgarden wohnen. Direkt neben dem dortigen Villenkomplex befindet sich die Kaserne einer Spezialtruppe der Revolutionsgarden, die den Namen انصارالمهدی – «Stützen des Mehdi» – trägt. Ihr obliegt der Schutz Ali Khameneis, seiner Familie sowie seiner hochrangigsten Gäste.
Wie der Hamas-Chef tatsächlich getötet wurde, wissen wir noch nicht. Ein fliegendes Objekt habe Hanjya und seinen Leibwächter kurz nach Mitternacht getötet, liest man in einer Erklärung der Revolutionsgarden. Ein Sicherheitsexperte aus Washington vermutet, dass eine Rakete von einem gegenüberliegenden Apartment abgeschossen worden sei. Andere reden von einer in seinem Zimmer versteckten Bombe. Wie auch immer.
Nicht einmal Khamenei kann sich seines Leben sicher sein
Dass Israel in diesem Bezirk der iranischen Hauptstadt eine solch spektakuläre Aktion präzise und erfolgreich durchführen kann, beweist, wie löcherig der Sicherheitsapparat der Islamischen Republik ist. Ein Attentat gegen eine solche Person an einem der bestbewachten Orte Irans durchführen zu können, setzt eine Unmenge von Geheimdienstinformationen und enorme logistische sowie personelle Möglichkeiten voraus. Insider sind sich sicher: Die notwendigen Tipps müssten aus unmittelbarer Nähe des mächtigsten Mannes Irans gekommen sein.
Diese beispiellose Demütigung setzt die Teheraner Machthaber unter einen existenziellen Zugzwang. Die Islamische Republik hält sich selbst für – und ist in der Tat auch – die Koordinatorin diverser Milizen in der Region, die sich als «Achse des Widerstands» bezeichnen. Wenn einer der wichtigsten Chef dieser Milizen in Teheran, im angeblich sicheren Koordinationszentrum, so einfach umgebracht werden kann, ist das eine Blamage ersten Ranges – vor allem gegenüber den eigenen Stellvertretern von Syrien über den Libanon und den Irak bis zum Jemen.
Rahim Ghomeischi, ein ehemaliger Gardist und Veteran des iranisch-irakischen Krieges, der neuerdings als kritischer Blogger aktiv ist, drückte diese ungeheuerliche Demütigung, die Israel den Teheraner Machthabern zugefügt hat, am Mittwoch mit folgenden Worten aus: «Seit zehn Monaten pflügt Israel die gesamte Erde des winzigen Gaza-Streifens um und schafft es trotzdem nicht, bekannter Hamas-Führer habhaft zu werden. Doch im angeblich ganz sicheren grossen Teheran schafft es das problemlos. Können unsere Machthaber den Grad dieser Erniedrigung erahnen?»
Wie haben die Israelis das geschafft? Die israelischen Agenten seien so tief in die iranischen Organe eingedrungen, dass sie zu fast allem fähig seien, zur Tötung iranischer Atomwissenschaftler, «zu Sabotage in diversen Industrieanlagen, zum Diebstahl brisanter Geheimdokumente und zu vielem mehr». Das sagte vor kurzem Ali Younessi, der Ex-Geheimdienstminister im Kabinett Mohammad Khatami und «Sonderberater» des Ex-Präsidenten Hassan Rohani. Er ergänzte weiter: Selbst die höchsten Persönlichkeiten an der Spitze des Staates dürften sich ihres Lebens nicht ganz sicher sein.
Iran muss Rache üben, fordert die Hamas
Israel hätte, wenn es wollte, Hanijya an einem anderen Ort, selbst an seinem Wohnort Doha in Katar umbringen können. Dass es gerade Teheran für diesen Mord auswählte, birgt unzählige Botschaften und Lektionen. Vor der Audienz bei Khamenei war Hanijya gemeinsam mit ِZiyad Nakhaleh, dem Chef des islamischen Jihad, und Naim Qassem, dem zweiten Mann der libanesischen Hisbollah, im iranischen Parlament gewesen. Sie wohnten dort der Amtseinführung des neuen iranischen Präsidenten Massoud Pezeshkian bei.
Hanjyas gewaltsamer Tod in Teheran ist zweifellos ein historischer Akt, der vieles in der islamischen Republik umkrempeln wird. Pezeshkian, der gerade gewählte und vereidigte Präsident, kam mit dem Versprechen an die Macht, ein neues Kapitel in der iranischen Politik einschlagen zu wollen. Nun sieht er sich plötzlich in einer neuen Welt, einer ganz neuen Situation, sogar mit einem möglichen Waffengang mit Israel konfrontiert. Ali Khamenei verspricht, Israel eine «schmerzliche und unvergessliche Antwort» geben zu wollen. Radikale Gruppen und Stimmen wie die Tageszeitung Keyhan fordern, die Rache müsse über Israel hinausgehen und unbedingt auch die USA einschliessen.
Khalil Al-Hayya, Hamas-Vertreter in Teheran, nahm am Sarg von Ismail Hanjya offen und ausdrücklich die Teheraner Machthaber in die Pflicht: «Was die Rache für unseren Märtyrer Hanjya angeht, das überlassen wir der Islamischen Republik Iran und den Qassam-Brigaden in Gaza. Sollten die Hände, die unseren Führer getötet haben, nicht abgehackt werden, schiessen sie weitere Raketen ab und töten andere unserer Helden», sagte er am Mittwoch bei der Trauerkundgebung in Teheran. Und die New York Times berichtet am selben Tag, Ali Khamenei habe in einer Sondersitzung des nationalen Sicherheitsrats von den Revolutionsgarden gefordert, als Vergeltung so schnell wie möglich die Städte Haifa und Tel Aviv mit Raketen anzugreifen. Das Blatt beruft sich dabei auf drei hochrangige Militärs.
Ein neuer, alter Pezeshkian?
Und plötzlich spricht auch der neue Präsident, der angeblich den Iran mit der Welt versöhnen wollte, eine andere Sprache: «Wir werden die zionistischen Besatzer Palästinas, die unseren verehrten Gast hier töteten, zwingen, ihre Tat zu bereuen.»
Wie er Israel mit praktisch leeren Kassen und fehlender Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit Reue beibringen will, bleibt sein Geheimnis – zumal wichtige Entscheidungen, vor allem militärische, nicht bei ihm liegen. Pezeshkian wird sich, wie alle Präsidenten der Islamischen Republik vor ihm, allem beugen müssen, was aus dem بیت رهبری , dem Haus des Führers, kommt. Das hat Ali Khamenei bereits vor Hanjyas Tod, also in «ganz normalen Zeiten», als Normalität klargestellt: Das sei das Wesen seines Systems. Eine Woche vor der Vereidigung Pezeshkians hatte er die Parlamentsabgeordneten zu sich kommen lassen und sie dazu aufgefordert, dem neuen Präsidenten behilflich zu sein. Dabei hatte er wörtlich hinzugefügt, die Parlamentarier sollen strengstens darauf achten, dass alle Minister seinem System – der Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten – «bis an die Zahnwurzeln» treu seien.
Kurz nach seinem Sieg bei den Wahlen hatte Pezeshkian den ehemaligen Aussenminister Javad Zarif damit beauftragt, eine grosse Kommission aus verschiedenen politischen Gruppen und Ethnien des Landes zusammenzustellen. Auch Frauen sollten dabei sein. Alle sollten ihre Ministervorschläge zusammentragen und einreichen. Denn Pezeshkian ist offiziell nur mit einem Stimmenanteil von etwa einem Viertel der Wahlberechtigten zum Präsidenten gekürt worden. Die Hälfte der Bevölkerung blieb den Wahlurnen fern. Mit der Kommission glaubte er, eine gewisse Unterstützung über seine Wähler und Wählerinnen hinaus für seinen neuen Kurs gewinnen zu können.
Diese Vorschläge seien vollständig beim Präsidenten eingereicht worden, hatte Zarif vor einer Woche verkündet. Namen nannte er dabei nicht. Und Pezeshkian sagte darauf, er werde mit dieser Liste zum «Führer» gehen und, wenn dieser zustimme, die vorgeschlagenen Personen in sein Kabinett berufen. Ali Khamenei hat allerdings in der Vergangenheit stets klargestellt, dass er über fünf Ministerposten allein entscheidet: das Aussen-, das Innen-, das Verteidigungs-, das Geheimdienst- und das Kulturministerium.
Doch das waren die so genannten «Normalzeiten». Angesichts eines möglichen Waffengangs mit Israel sind wir in ein neues Zeitalter eingetreten.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal