„Post-Sanktionen“: Diese Wortneuschöpfung hat dieser Tage Konjunktur. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu benutzt sie ebenso häufig wie der junge saudische Verteidigungsminister Mohammed bin Salman oder der iranische Revolutionsführer Ali Khamenei. Die Wortkombination findet sich auf den Webseiten iranischer Menschenrechtsaktivisten und der Nachrichtenagenturen Fars und Tasnim, die den Revolutionsgarden und den iranischen Geheimdiensten nahestehen.
Netanyahus Propagandaschlacht
So unterschiedlich diese Personen und Gruppen auch sein mögen, in einem sind sie sich alle einig: Die Zeit der „Post- Sanktionen“ bedeute nicht das Ende, sondern den Anfang einer Ära mit vielen Risiken und Unwägbarkeiten, eine Zeit der Herausforderungen, für die man sich schon jetzt wappnen müsse. Bis die sanktionslose Zeit anbricht, werden zwar noch Monate, sogar Jahre vergehen. Denn noch müssen zahlreiche politische und juristische Hürden aus dem Weg geräumt werden, noch stehen schwierige Entscheidungen rund um den Globus an: Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der US-Kongress, das Europaparlament und die Europäische Kommission haben noch gewichtige Worte mitzureden, wann welche Sanktionen in welcher Reihenfolgen aufgehoben werden können.
Doch für die Hauptakteure scheint die Zeit der Post-Sanktionen längst angebrochen zu sein. Netanyahu rüste sich für einen Krieg, der Millionen kosten und schon in diesem Monat beginnen werde, schrieb die israelische Zeitung „Haaretz“ bereits Anfang dieses Monats. Gemeint ist damit eine für die nächsten Wochen und Monate geplante Propagandaschlacht Israels in den USA, bei der es nicht nur um die Meinungsführerschaft in der amerikanischen Öffentlichkeit, sondern auch um die Stimmen der republikanischen Abgeordneten und Senatoren geht, die dem Atomdeal zustimmen müssen.
Zwei Stunden bevor die Nachrichtenagenturen die Eilmeldung über die historische Entscheidung in Wien verbreiteten, meldete Netanjahu bereits Vollzug und twitterte auf Persisch: „Trotz Atomdeal sagt Khamenei, Iran müsse den Kampf gegen die USA fortsetzen - und Rouhani führt Hassaufmärsche an.“ Einige den Hardlinern nahestehende iranische Webseiten machten sich sofort über die grammatikalischen Fehler dieses Tweets lustig. Doch Formfehler hin, inhaltliche Unzulänglichkeit her, dieser Satz signalisiert den Beginn der angekündigten Schlacht um Meinungen und Stimmen in den USA.
Saudiarabien als Verbündeter Israels
Die islamische Republik sei gefährlicher als der islamische Staat (IS). Trotzdem fülle der Westen die Schatullen der Mullahs auf, sagte Netanjahu später auf einer Pressekonferenz und machte einen sprachlichen Ausflug in die Welt der Kasino-Besucher und Zocker: „Der Iran gewinnt den Jackpot: Hunderte Milliarden Dollar, mit denen das Land weiter Aggression und Terror in der Region und der Welt vorantreiben kann.“ Dies sei „ein schlimmer Fehler historischen Ausmaßes“. Die „Mutter aller Lobbyschlachten“ werde man in den nächsten Monaten erleben, sagt Meir Javedanfar, aus dem Iran stammender Politikwissenschafter an den israelischen Hochschulen Herzliya und Haifa.
Für seine Kampagne gegen das Atomabkommen hat Netanyahu einen mächtigen, einflussreichen und entschlossenen Verbündeten, der bereits handelt: Saudi-Arabiens König Salman, der seit seinem Amtsantritt im vergangenen Januar unmissverständlich und ununterbrochen signalisiert, der Kampf gegen den Iran gehöre zu den Schwerpunkten saudischer Außenpolitik. Sein 34-jähriger Sohn Mohammad, der das Verteidigungsministerium führt, befindet sich schon längst in einem Krieg gegen den Iran, wenn auch in einem Stellvertreterkrieg. Saudische Kampfflugzeuge, die Jemen bombardierten, seien nicht gegen das jemenitische Volk, sondern gegen die Expansionsbestrebungen der Herrscher in Teheran im Einsatz, sagte Saudi-Arabiens Botschafter in den USA, Adel al-Jabir, bereits am 26. März zu Beginn der Luftangriffe. Zufall oder nicht, genau an diesem Tag begann im schweizerischen Lausanne die letzte Runde der Atomverhandlungen, bei der die Eingeweihten damals schon ahnten, dass die endgültige Einigung nur noch eine Frage von Wochen sei.
Am Dienstag, nach der feierlichen Verkündung des Abkommens in Wien, vergingen mehrere Stunden, bis am späten Abend eine dürre Mitteilung aus Riad kam. Die saudische Nachrichtenagentur verbreitete unter Berufung auf eine „offizielle Quelle“ den vielsagenden Satz: Man begrüße das Abkommen, das Teheran den Weg zur Atombombe versperren solle. Auch ein späteres Beschwichtigungstelefonat von US-Präsident Barack Obamas mit König Salman zeigte keine Wirkung, jedenfalls nicht nach Außen. Im saudischen Staatsfernsehen wiederholte der Moderator der abendlichen Nachrichtensendung fast wörtlich, was man am Vormittag von Netanyahu gehört hatte: „Das Chaos, das der Iran in der arabischen Welt angerichtet hat, wird sich nun - beflügelt von dem Abkommen – erst recht fortsetzen.“
Khamenei - Herr des Verfahrens im Iran
Die Entschlossenheit der Gegner des Abkommens, ob sie in Tel Aviv, Riad oder Washington sitzen, ist unüberhörbar. Doch ob sie auch erfolgreich sein werden, hängt hauptsächlich von den Mächtigen in Teheran ab: allen voran von Revolutionsführer Ali Khamenei, dem mächtigsten Mann des Iran. Und hier beginnt die große Ungewissheit. Nach der Einigung feiern die Menschen in Teheran und anderen Grossstädten bis spät in die Nacht. Die jahrelangen Verhandlungen und schließlich das Abkommen wurden nach allen bisher veröffentlichten glaubwürdigen Dokumenten von Khamenei persönlich eingeleitet und abgesegnet. Selbst in den letzten Tagen und Stunden vor dem Abschluss flogen Aussenminister Zarif und Mitglieder seines Teams mehrmals zwischen Teheran und Wien hin und her, um die letzten Einzelheiten zu besprechen.
Präsident Rouhani hat mehr als einmal öffentlich beteuert, der Revolutionsführer sei über alle Details im Bilde, die eigentliche Entscheidung werde von der „Obersten Stelle der Ordnung“ getroffen. Auch nach der Einigung sagte Rouhani in seiner Ansprache an die Nation, alles wäre ohne Unterstützung und Genehmigung Khameneis nicht denkbar gewesen. In der Tat hat dieser die innenpolitischen Klippen in der Atompolitik sehr gut überwunden, die Gegner in einem kontrollierten und eingeschränkten Spielraum gehalten. Und obwohl Khamenei vieles zugelassen hat, was bis vor kurzem noch Tabu war, blieben die Gegner in ihren eingezäunten Spielfeldern. Auch das vorliegende Abkommen geht in vielen Punkten weit über das hinaus, was Khamenei noch vor Wochen als unüberschreitbare rote Linie bezeichnet hatte.
Warum schweigt der Revolutionsführer zum Abkommen?
Deshalb war es am Dienstagmittag, nachdem Einzelheiten des Abkommens bekannt geworden waren, spannend zu erfahren, was der mächtige Mann in Teheran dazu sagen würde. Gerade hatte Präsident Obama seine Rede über das Wiener Abkommen beendet, da meldeten die staatlichen iranischen Nachrichtenagenturen, Khamenei werde die Regierung am Abend zum Fastenbrechen empfangen. Zehn Stunden vergingen also zunächst, bis Rouhani und sein Kabinett zur Audienz erschienen. Und die verhieß wenig Gutes für die Zukunft. Kein einziges Wort vernahm man an diesem Abend von Khamenei über den Inhalt der Einigung. Nicht einmal das Wort Abkommen nahm der Revolutionsführer in den Mund. Er bedankte sich in dürren Worten bei den Mitgliedern des Verhandlungsteams und ging dann sehr schnell und geschickt zur Rolle eines Feldherrn über, der von einem Imam mit wichtigen Aufgaben betraut wurde.
An diesem Abend zeigte sich wieder einmal der altbekannte Khamenei, der sich bei brisanten Themen nicht sofort und eindeutig festlegt, sondern erst abwartet und sich Türen für den Rückzug offen lässt. Denn obwohl er als der eigentliche Architekt des Abkommens gilt, schwieg Khamenei dazu und redete lieber über seine Lieblingsthemen: Islam, Moral, Kultur und Schutz vor Fremdem.
Keine Implementierung ohne Transparenz
Wären diese Themen nur theologische Diskurse und hätten sie nicht mit dem Alltag der iranischen Gesellschaft zu tun, könnte man sie als Predigten eines Geistlichen abtun. Doch solche abstrakten Begriffe an einem solchen Abend, vor einem solchen Publikum und nach einem solchen weltbewegenden Abkommen sind keine leeren Predigten. Sie sind handfeste Politik und sollen Khameneis Prioritäten für die Zeit der Post-Sanktionen verdeutlichen.
Diese Audienz an diesem zumindest für den Iran historischen Tag hat der Regierung unmissverständlich signalisiert, dass die Atomvereinbarung keinen „Rattenschwanz“ nach sich ziehen dürfe: Eine Öffnung der Gesellschaft, eine richtige Hinwendung des Landes zum Westen komme nicht in Frage. Vor diesem Hintergrund mag sich weniger paradox anhören, was viele Menschenrechtsaktivisten befürchten: Die Zeit der Post-Sanktionen werde für die iranische Zivilgesellschaft noch schlimmer werden als die vorangegangene. Die omnipotenten Sicherheitsbehörden würden künftig alles unternehmen, um dem Eindruck zu begegnen, durch das Abkommen habe sich etwas Grundlegendes in der Islamischen Republik verändert.
Doch unabhängig davon, ob das Atomabkommen zu jenen Lockerungen führt, die sich Menschenrechtler wünschen, stellt sich die Frage, wie viel Transparenz und Freiheit das Abkommen selbst braucht, wenn es nicht bloss Papier bleiben will. Denn die westlichen Partner wollen eine lückenlose Umsetzung der Vereinbarung und Kontrolle über das künftige Verhalten der Mächtigen im Iran. Wie soll das aber ohne eine Öffnung der Gesellschaft vor sich gehen? Nicht alles lässt sich hinter verschlossenen Türen abwickeln, Khamenei ist nicht Kim Jung Il und die Islamische Republik nicht Nordkorea. Ohne ein Mindestmaß an Transparenz und Öffentlichkeit ist die praktische Implementierung des Abkommens nicht denkbar.
Mit freundlicher Genehmigung von Iran Journal