Immunität hat viel zu tun mit einem Begriffspaar: das Selbst, das Eigene – in Abgrenzung zum Nicht-Selbst, zum Fremden. Im Jahr 1960 erhielten der Zoologe Peter Medawar und der Mediziner Frank McFarlane Burnet den Nobelpreis für ihre Arbeiten über das Immunsystem. Eine zentrale Rolle spielt darin der Begriff des körperlichen «Selbst» und «Nicht-Selbst» in der Immunantwort: in der Aufrechterhaltung und Zerstörung der Integrität eines Organismus.
Damit war das Abwehr-Paradigma der Immunologie geboren. Es prägt die immunologische Forschung bis heute. So steht zum Beispiel in einem Lehrbuch: «In vielen Fällen ist man aufgrund von klinischen Situationen fremden Substanzen ausgesetzt; von einer Person zur anderen wird Gewebe verpflanzt oder Blut übertragen. Die Verweigerung des Transplantats oder der Transfusion ist dabei nicht eine Naturkraft (…) Sie erfolgt vielmehr aufgrund der zentralen Aufgabe der erworbenen Immunität, nämlich der Erkennung und Elimination des ‘Nicht-Selbst’.»
Das Abwehr-Paradigma
Unschwer erkennt man die militärische Konnotation. Nun sind die meisten militärischen Metaphern auf medizinischem Gelände nur begrenzt einsetzbar, wenn nicht gar schädlich. Das Grundproblem liegt allerdings tiefer, in der Natur des Virus selbst. Es ist eine proteische, «halblebendige» Entität, seine komplexe Struktur markiert die Schwelle zwischen Leben und Nicht-Leben, Selbst und Nicht-Selbst. Es ist ein molekularer Kopierautomat, ein Stück Information, das darauf angewiesen ist, von einem lebenden Wirt implementiert zu werden.
Dabei neigen wir wie bei allem Nicht- oder Halblebendigen zur Anthropomorphisierung: Das Virus attackiert, invadiert uns, es täuscht, mutiert, sucht, entdeckt. Nur schon die Redeweise vom Virus als eines fremden Akteurs ist fragwürdig. Warum überhaupt «Akteur», wenn es sich um ein inertes Grosspartikel handelt: in eine Proteinhülle verpacktes genetisches Material, das sich nur durch eine lebende Zelle aktivieren, zum «Leben» erwecken lässt? Und wenn das Virus kein aktives «Fremdes» ist, das es abzuwehren gilt, was bedeutet dann überhaupt virale «Attacke»? Eine Mikrobe trägt ja nicht einfach das Erkennungsmerkmal «Angreifer» auf sich. Warum sollte der Körper dieses winzige Stück Materie überhaupt erst animieren, wenn es sich dabei um einen potenziellen Gefährder handelt?
Diffuse Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst
Solche Inkonsistenzen des Abwehr-Paradigmas sind schon lange bekannt, trotz der «normalen Forschung», die sich immer noch darauf stützt. Ein Grund für das Beharrungsvermögen des Paradigmas ist klar: Es reduziert Komplexität. Es schafft klare Differenzen, Eigenes gegen Fremdes. Dadurch beschwört es ein Immun-Regime herauf, das Krankheitserreger an der Grenze stoppt. Der Fokus liegt auf deren Identifizierung. Gesundheit bedeutet anhaltende Wachsamkeit und Rückschlagskraft der zellulären Grenzpatrouillen.
Nun lehrt uns aber ein differenzierteres Bild der Differenz, dass die Grenzen mobil, diffus und porös sind. Fremde passieren sie unentwegt und unentdeckt. Sie zirkulieren im Körper, ohne dass dieser Schaden davontrüge. Es trifft sicher zu, dass wir uns im Anpassen an Umweltbedingungen auch defensiv verhalten müssen. Immer wieder gilt es, etwas abzuwehren. Aber Anpassung hat nicht nur eine defensive Seite. Jeder Organismus muss seine Umwelt kennenlernen. Und das tut er explorierend, nicht abwehrend.
Infektion bedeutet Information
Das heisst, die Immunzellen lernen von den Fremden. Infektion bedeutet stets auch Information – Information über einen potenziellen Schädling oder Feind. Immunisieren ist einerseits ein Grenzenziehen, andererseits auch eine Erkundung der Grenzen. Die Immunzellen erkunden ständig Aspekte des Selbst und des Nicht-Selbst. «Anormale» Pathogene und «normales» Zellmaterial bestehen aus den gleichen Bausteinen: Proteinen, Kohlehydraten, Nukleinsäuren, Lipiden.
Das legt den Schluss nahe, dass die Antikörper der Immunzellen in den Antigenen der Eindringlinge quasi Teile ihrer selbst erkennen, dass sie sich also im Fremden «wiedererkennen». Antikörper aktivieren «fremde» Viren, und sie lernen so, auf diese zu reagieren. So gesehen, ist das «Selbst» nicht etwas, das präexistiert, sondern aus dem Lebensprozess entsteht und darin ständig bestehen muss – bereits auf molekularer und zellulärer Ebene. Sich infizieren lassen bedeutet, pointiert gesagt, sich informieren lassen, wer man ist. Der alte Spruch «Kenne deine Freunde gut, kenne deine Feinde besser» gewinnt einen anderen, einen weniger militanten Sinn.
Spontane Produktion von Abwehrzellen
Es gibt eine schwindelerregende Zahl von Substanzen und molekularen Strukturen, die Immunreaktionen hervorrufen können: Antigene. Ein Pionier der modernen Immunologie, der dänische Mikrobiologe Jens Kay Jerne, stellte in den 1950er-Jahren die Theorie auf, dass der Organismus evolutionär darauf programmiert ist, mit dieser Schwemme von Antigenen fertig zu werden. Die bahnbrechende Einsicht Jernes war, dass die Produktion von Antikörpern aufs Geratewohl erfolgt. Sie ist nicht eine gezielte spezifische Abwehrreaktion auf aktuelle Gefährder, sondern ein spontanes, zufallsgesteuertes Drauflos-Produzieren. Der Körper rüstet sich vor dem «Ernstfall» gegen mögliche künftige Invasoren.
Die Frage stellt sich natürlich: Warum leistet sich ein Abwehrsystem den Luxus solch unspezifischen Überflusses, solcher Redundanz? Und eine naheliegende Antwort lautet: Weil es dem Immunsystem nicht bloss um Abwehr zu tun ist, sondern um etwas anderes: um Verständnis des Fremden. Es produziert nicht bloss winzige Abwehrmaschinen, sondern Such- und Erkennungsmaschinen. Der Antikörper muss das Programm des Antigens dekodieren, bevor er spezifisch darauf reagieren kann. Und erst diese Reaktion qualifiziert das Antigen als fremd. Das Eigene ist dann das, worauf die Abwehr nicht zu reagieren braucht (sehen wir hier ab vom fatalen und leider nicht so seltenen Fall, dass die Abwehr auch autoimmun auf das Eigene reagiert).
Das Intranet des Körpers
Das macht die Sache nun definitiv komplizierter, genauer: vernetzter. Denn der Lernprozess des Immunsystems hat sein Gegenstück im Lernprozess des Virus. Das Virus lernt nämlich, auf die Abwehr zu reagieren, und womöglich stellt gerade der «Selektionsdruck» der Abwehr eine opportune Mutationsgelegenheit dar.
Immunreaktion und Mutation gehören zusammen. Wie Jerne in einem Aufsatz 1974 schrieb: «Das Immunsystem zeigt eine Anzahl von Dualismen. Der erste ist das Vorkommen von T-Zellen und B-Zellen mit teils synergetischen, teils antagonistischen Wechselwirkungen. Ein zweiter Dualismus liegt darin, dass Antikörpermoleküle sowohl erkennen wie erkannt werden müssen.
Diese Eigenschaften führen zur Errichtung eines Netzwerks, und weil Antikörpermoleküle sowohl frei wie als Rezeptoren auf Immunzellen auftreten, verflicht dieses Netzwerk Zellen und Moleküle.» Damit formulierte Jerne in nuce ein neues Paradigma: das Intranet des Körpers. Der Körper ist ein Netz von Netzwerken, nicht nur des Immunsystems, sondern auch des Nerven-, des Hormon- oder des Verdauungssystems. In diesem Netz fliessen nicht nur Blut und andere Flüssigkeiten, sondern andauernd Informationen. Wir sind buchstäblich ein Gespräch von Zellen und Molekülen.
Die Welt – eine einzige Keimträgerin
Diese Metapher schliesst das Fremde ins Eigene ein: Das Eigene ist assimiliertes und inkorporiertes Fremdes. In diesem Sinn schreibt etwa der Mikrobiologe Arnold Levine: Die Viren «haben einen Teil ihrer Nucleotidsequenzen zu unserer eigenen genetischen Ausstattung beigesteuert. Wir tragen die Überreste von Retroviren in uns und geben sie von Generation zu Generation weiter, eingebaut in unsere Chromosomen und möglicherweise mit erheblichen Auswirkungen auf unsere Lebensfähigkeit».
Selbstverständlich verliert die Mikrobe ihre potenzielle Schädlichkeit nicht durch einen Paradigmenwandel. Aber der neue Blick eröffnet ein anderes Panorama. Immunität heisst nicht Isolation, sondern Navigieren durchs Netz der Mikroben, ständiger Austausch mit ihnen. Jeder Mensch trägt in sich sein höchst eigenes Netz. Der permanente Austausch viraler und humaner genetischer Information ist eine Tatsache. Sie impliziert weder «Krieg» noch «Frieden», vielmehr Symbiosen zwischen Mensch und Mikrobe, die je nach Umständen mutualistischen oder pathogenen Charakter annehmen können. Immunität neu denken bedeutet als Erstes die Banalität zu akzeptieren: Die Welt ist eine einzige Keimträgerin.