Seit geraumer Zeit geht die Furcht um, dass Libanon in den syrischen Bürgerkrieg hineingezogen wird. Aber wie, war unklar. Niemand konnte die einzelnen Schritte voraussehen. Jedermann wusste, dass die Libanesen selbst die Gefahr kannten und sehr bewusst alles taten, um ihr auszuweichen.
Doch der tödliche Bombenanschlag auf den Sicherheitschef, General Wassam al-Hassan, hat das Land ganz nahe an die innere Spaltung herangebracht. Gegen den Willen der Libanesen könnte der syrische Bürgerkrieg jetzt auf das kleine Nachbarland übergreifen.
Das Gegengewicht
Der General hatte als Chef der Leibgarde Rafic Hariris Karriere gemacht und war nach der Ermordung seines Chefs, des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten, im Dienst seines Sohnes und Nachfolgers, Saad Hariri, gestanden. Als dieser und seine Verbündeten, von der sogenannten Allianz des 14. März, die Regierungsmacht innehatten, war er in den staatlichen Dienst übergetreten und zum Chef eines neu geschaffenen Inneren Sicherheitsdienstes Libanons geworden. Der war dazu bestimmt, als Gegengewicht gegen den militärischen Geheimdienst Libanons, "Mukhabarat" zu dienen. Wassam al-Hassan blieb auf diesem Posten, als die Konkurrenten und politischen Gegner Hariris und seiner Allianz, die sich als die „Allianz vom 8. März“ bezeichnen, die Macht übernahmen und Saad Hariri Oppositionsführer wurde.
Der Sunnit Hariri wurde und wird von Saudi-Arabien unterstützt und genoss auch die Freundschaft der USA. Die Feinde Haririrs, das "Bündnis vom 8. März", bestehen im Kern aus Hizbullah, der kämpferischen Schiitenpartei Libanons, die mit Syrien und mit Iran verbündet ist, aber bisher versucht hat, im syrischen Bürgerkrieg nicht als Partei in Erscheinung zu treten.
Der vermeintliche Verräter
Ob sie im Geheimen dennoch das Regime Asads unterstützt, ist umstritten. Die Feinde Asads in Libanon und in Syrien glauben, sie verfügten über Beweise dafür, dass Hizbullah Kämpfer aktiv im syrischen Bürgerkieg auf der Seite Asads mitwirkten. Hizbullah selbst streitet dies ab.
Die gegenwärtige Regierung Libanons wird von Hizbullah und den Verbündeten und Freunden der Schiitenpartei gebildet. Ihr Vorsitzender, Ministerpräsident Najib Mikati, ist zwar ein Sunnit. Er muss Sunnit sein, um nach der libanesischen Verfassung als Ministerpräsident wirken zu können. Doch für die Mehrzahl der Sunniten, die unter der Führung Saad Hariris steht, ist er nahezu ein Verräter, weil er sich der "schiitischen" Gegenallianz zur Verfügung gestellt hat.
Nicht nur bei den Sunniten, sondern auch unter den christlichen Maroniten gibt es vergleichbare Rochaden. Der Staatschef Michel Suleiman ist, wie es sich gehört, ein Maronit. Doch er ist "untypisch". Die Mehrzahl der Maroniten ist zurzeit mit den Sunniten Hariris verbündet und steht in der Opposition. Allerdings mit einer gewichtigen Ausnahme: Der ebenfalls maronitische General, Michel Aoun, der eine bedeutende Rolle in den letzten Jahren des libanesischen Bürgerkrieges als Kämpfer gegen die Syrer in Libanon spielte, steht heute in einer politischen Allianz mit Hizbullah. Er verfügt über eine eigene maronitische Anhängerschaft, die er in diese Allianz eingebracht hat. Man kann vermuten, dass er diese Politik verfolgt, weil er hofft. als Maronit und Freund der mächtigen schiitischen "Gottespartei" , Hizbullah, einmal Präsident Libanons zu werden - wenn der gegenwärtige Präsident Suleiman am Ende ist.
Hizbullah braucht Syrien
Zu den festen Gegebenheiten der libanesischen Politik gehört der Umstand, dass Hizbullah auf Syrien angewiesen ist. Dies in erster Linie der Waffen wegen, die Hizbullah aus Iran erhält und die über Syrien geliefert werden. Ohne die Waffen und seine mit ihnen ausgerüsteten Kämpfer wäre Hizbullah nicht die weitgehend dominierende Macht, die es in Libanon ist. Dabei ist der Umstand entscheidend, dass dank dieser Waffen Hizbullah aller Wahrscheinlichkeit nach der libanesischen Armee überlegen ist. Die Feinde und Rivalen der Gottespartei möchten sie natürlich gerne entwaffnen, und der politische Einfluss der USA sowie der Nato-Länder versucht dies seit Jahren zu bewirken. Allerdings bisher vergeblich. Hizbullah beruft sich auf die "israelische Gefahr", die es notwendig mache, seine Kämpfer und Waffen auf dem höchstmöglichen Stand der Ausrüstung und Ausbildung zu halten.
Israel hat 2006 primär gegen Hizbullah, aber auch gegen ganz Libanon, einen zerstörerischen Krieg geführt, aus dem Hizbullah unbesiegt hervorging und der einen Prestigeverlust für die israelischen Streitkräfte mit sich brachte.
Hizbullah mit Asad gefährdet
Der Bürgerkrieg in Syrien hat die Position von Hizbullah insofern geschwächt, als die Vergehen gegen die Menschenrechte der Syrer durch ihre eigene Regierung in Libanon bekannt und in allen Köpfen beständig präsent sind. Hizbullah ist darauf angewiesen, sie abzustreiten oder vom Asad-Regime Distanz zu suchen. Hizbullah tut beides, jedenfalls nach aussen hin. Doch ohne ganz mit Asad zu brechen und möglicherweise, indem es heimlich doch mit ihm zusammenarbeitet.
Ein Sturz des Asad Regimes würde zu einer entscheidenden Schwächung Hizbullahs und seiner Hauptstütze, Iran, führen. Ein pro-saudisches Regime in Damaskus, das Asad nachfolgen könnte, würde ohne Zweifel die für Hizbullah lebenswichtige Verbindung zu Iran, die über Syrien führt, kappen.
Der Schwebezustand Libanons
Bisher haben die Libanesen vermocht, all diese Gegensätze und die durch sie bedingten ausserlibanesichen Allianzen, mit Iran einerseits, mit Saudi-Arabien und mit den USA andererseits, in der Schwebe zu halten. Vergleichbar einem Ballspieler, der mit fünf Bällen jongliert und sein Spiel nur fortsetzen kann, solange es ihm gelingt, drei davon in der Luft zu halten.
Das subtile Gleichgewicht ist ins Schwanken geraten durch den Mord an Wissam al-Hassan, weil dieser eine Kraft von Bedeutung innerhalb dieses Spieles gewesen war. Er stand ganz auf der Seite Hariris und seiner Sunniten. Er war ein bitterer Gegner der Syrer und damit auch ein Gegenspieler Hizbullahs. Er hatte die erste Untersuchung des tödlichen Bombenanschlags gegen Vater Hariri geführt, die Syrien als verantwortlich erklärte und auf die Anschuldigung von syrischen Geheimdienstleuten hinauslief.
Später war allerdings der internationale Gerichtshof, der in der Frage entscheiden sollte, zur Anklage von Hibullah-Aktivisten übergegangen. Eine Anklage, die von Hizbullah so heftig dementiert wird (Hizbullah will Israel die Schuld zuschreiben), dass bisher die libanesische Politik einer Gerichtsverhandlung ausweichen musste. Die Gottespartei hat klargemacht, dass sie eher zu den Waffen greifen würde, als zuzulassen, dass ihre Angehörigen, dem Gericht ausgeliefert würden. Saad Hariri, der Sohn des Ermordeten, versuchte bisher vergeblich, die angeklagten Hizbullah-Agenten doch noch vor Gericht zu bringen.
Das Übergewicht der Hizbullah-Kämpfer
Wenn es zu Kämpfen käme, wäre ein libanesischer Bürgerkrieg unvermeidlich, und die Wahrscheinlichkeit wäre, dass Hizbullah die Auseinandersetzung gewönne. Weil seine Kämpfer allem Ermessen nach allen anderen Kampfgruppen, einschliesslich der offiziellen Armee, überlegen sind. Deshalb geschah nichts, die Angeklagten wurden nicht ausgeliefert. Doch das Auslieferungsverlangen des von der Uno eingesetzen internationalen Sondergerichtes besteht weiter.
Was selten erwähnt wird, weil es auf eine wütende Antwort Hizbullahs stiesse, ist die Vermutung, dass beide Anklagelinien zutreffen könnten: Es ist durchaus denkbar und keineswegs unlogisch, dass Hizbullah bei dem Bombenanschlag auf Hariri im Auftrag von Damaskus gehandelt haben könnte. Weshalb auch verständlich ist, dass der nun ermordete Wassam al-Hassan seine syrien-kritische Linie weiter vertrat und vorantrieb. Al-Hassan gilt auch als der Verantwortliche für die Aufdeckung zahlreicher israelischer Spione und elektronischer Spionage-Installationen in Libanon, die in den letzten Jahren vor sich ging.
Syrische Bombenpläne?
Seine letzte Leistung war die Festnahme des früheren Informationsministers, Michel Samaha, der zu den pro-syrischen Politikern gehörte. Er sitzt zur Zeit im Gefängnis unter der Anklage, er habe im Auftrag von Damaskus, so hiess es von Asad persönlich, Bombenanschläge auf eine Reihe von libanesischen Politikern geplant, natürlich solcher, die zur anti-syrischen Allianz Hariris gehörten. Der libanesische Innenminister hat erklärt, vor der Festnahme Michel Samahas habe es Drohungen gegen den nun ermordeten Wissam al-Hassan gegeben.
Ein Urteil gegen Samaha liegt allerdings noch nicht vor. Vielleicht wird es auch nie gefällt werden. Wenn nicht, ist anzunehmen, dass Hizbullah sein Gewicht energisch genug zur Geltung gebracht habe, um dies zu verhindern.
Ein Vorteil für Asad
Ein Bürgerkrieg in Libanon käme dem Asad-Regime zur Zeit wahrscheinlich gelegen. Er würde die internationale Aufmerksamkeit von Syrien ablenken und gleichzeitig der Aussenwelt klar machen, wie leicht die syrischen Kämpfe sich auf den ganzen Nahen Osten ausdehnen könnten.
Ein möglicher Präsident Romney, so muss Asad rechnen, könnte seiner angeschlagenen Macht gefährlich werden, indem er eine offene Intervention von amerikanischer Seite, etwa nach dem Muster dem Bombenangriffe auf Serbien von 1999, beschlösse. Eine verdeckte Intervention liegt bereits heute vor. Doch ein Bürgerkrieg in Libanon könnte dazu beitragen, sogar einen Romney davon abzuschrecken, Marines oder Drohnen nach Syrien zu schicken.
Ein Ende des Waffenflusses aus Libanon
Ein Bürgerkrieg in Libanon, in dem Hizbullah, Syriens Verbündeter, wahrscheinlich eine Übermacht besässe, könnte auch dazu beitragen, den Waffenfluss von Libanon an die syrischen Aufständischen zu unterbinden, an dem heute aller Wahrscheinlichkeit nach Freunde Hariris führend beteiligt sein dürften. Ein Krieg in Libanon würde auch die saudischen und qatari-Geldgeber der syrischen Rebellen dazu zwingen, ebenfalls Gelder für die Unterstützung der Hariri Partei in Libanon auszulegen, was zu Schaden der syrischen Aufständischen gehen könnte.
Ein solcher Bürgerkrieg würde natürlich auch die ganze Macht von Hizbullah, die sich gegenwärtig zurückhält, auf der pro-syrischen Seite der Gleichung zum Einsatz bringen. Wobei freilich als zusätzliche Möglichkeit auch ins Auge gefasst werden muss, dass Israel die Gelegenheit ergriffe, um sich erneut gegen Hizbullah zu wenden.
Ein Flächenbrand wirkt zu Gunsten Asads
Doch sogar ein solcher israelischer Hizbullah-Krieg würde wahrscheinlich Asad in seiner gegenwärtigen Lage Erleichterung durch die Ablenkung bringen, die ein grösserer Flächenbrand mit sich brächte.
Ähnliches gilt von Iran. Wenn der Nahe Osten brennt, wird vielleicht sogar ein Präsident Romney davor zurückschrecken, gleichzeitig eine Feuersbrunst im iranischen Mittleren Osten zu entfachen.
Die Opposition drängt auf Regierungsablösung
Neben diesen regionalen und damit auch weltpolitischen Interessen sind aber auch die lokalen, libanesischen, mit im Spiele. Dies zeigen sehr deutlich die Parteigänger Hariris, die gegenwärtig vor dem Regierungssitz in Beirut "sit-ins" veranstalten. Sie fordern den Rücktritt der gegenwärtigen (pro-Hizbullah) Regierung Najib Mikatis. Sie sagen, dies sei eine Notwendigkeit, um Libanon gegen die Aggressionen aus Syrien zu schützen, wie sie sich in dem Mordanschlag gegen Wassam al-Hassan erneut offenbart hätten.
Wahrscheinlich glauben sie wirklich, dass Saad Hariri als Ministerpräsident das Land besser schützen würde. Aber offensichtlich sind sie auch einfach an einem Machtwechsel interessiert, der ihre Seite an die Regierungsmacht brächte und damit ihren Leuten, wenn nicht ihnen selbst, Patronage-Möglichkeiten eröffnete, auf die sie schon lange warten.
Stabilität gegen Machtwechsel
Das Drängen auf einen Regierungswechsel ist allerdings ein Spiel mit dem Feuer, wie alle Libanesen wissen. Doch die Seite, die nicht an der Macht ist, hat immer ein Interesse daran, das Feuer nicht ganz erlöschen zu lassen, damit der politische Topf brodelt. Während umgekehrt die Regierungsseite die Feuer zu dämpfen versucht.
Mikati hat seinerseits seinen Rücktritt angeboten, doch Präsident Suleiman überzeugte ihn, im Augenblick nicht zurückzutreten. In der Tat würde eine Regierungskrise, wenn sie unter den gegenwärtigen Umständen ausbräche, kaum zu bewältigen sein. Hariri würde ohne Zweifel Anspruch auf das Amt des Ministerpräsidenten erheben. Doch von Hizbullah wäre zu erwarten, dass es ihn mit allen Mitteln zu blockieren versuchte. Was ohne Weiteres zu einer wochen- oder monatelangen Regierungskrise führen könnte, die natürlich ihrerseits wiederum die Gefahr von Auseinandersetzungen mit den Waffen, zu steigern drohte.
Balance am Rande des Abgrunds
Seit dem Ende des Bürgerkrieges vom Jahr 1991 ist es den Libanesen gelungen, zeitweise mit und zeitweise ohne Regierung, ständig am Rande von bewaffneten Zusammenstössen zu leben, ohne jedoch in einen Bürgerkrieg zurückzufallen. Die Erinnerung an die 15 Jahre der inneren Kriege war mächtig genug, um die libanesischen Kampfhähne jeweils im letzten Augenblick abzuschrecken.
Doch die gegenwärtigen Spannungen rund um Libanon herum sind stärker als je zuvor. Sie wirken sich mehr als je auf beide Seiten der innerlibanesischen Konfrontation aus. Die Gefahr, dass das labile Gleichgewicht des libanesischen Zusammenlebens übermässig erschüttert wird und deshalb zusammenbricht, ist grösser als je.
Doch die drei der fünf Bälle schweben immer noch in der Luft, und sie wurden bisher immer wieder gefangen. Noch ist das innere Gleichgewicht Libanons nicht unwiederbringlich zusammengebrochen.