Dem mexikanischen Künstler Jose Dávila ist in Zürich eine repräsentative Werkschau gewidmet. Ein Œuvre von hoher Qualität und Relevanz wartet darauf, auch hierzulande entdeckt zu werden. Dávila fasziniert mit sorgfältig konzipierten gedankenreichen Arbeiten.
«Der Lauf der Dinge» heisst der 1987 entstandene Film des Schweizer Künstlerduos Fischli Weiss, der ein halbstündiges Happening bewegter Objekte in einer Industriehalle dokumentiert: Ein Vorgang löst immer wieder einen nächsten aus, jede Wirkung wird zur neuen Ursache. Die kinetischen Verkettungen erscheinen jeweils als skurrile Mischung aus tapsigem Zufall und ingeniöser Anordnung. Die berühmt gewordene Installation verdreht die aus der Chaostheorie stammende Hypothese des Schmetterlingseffekts zur paradoxen und witzigen Vorstellung eines planbaren Chaos.
In Jose Dávilas Installationen geht es darum, einer stets drohenden Instabilität zu entgehen.
Auch in Jose Dávilas Installationen sind die Objekte verkettet, doch nicht mit dem Ziel, eine laufende Bewegung mit allen Tricks in Gang zu halten, sondern um einer stets drohenden Instabilität zu entgehen. Dávila arrangiert nicht Prozesse, sondern Zustände. Bei der Grossskulptur «The act of being together» sind 21 wuchtige stehende Doppel-T-Stahlträger mit filigranem Drahtseil an der Saaldecke gesichert. Gesichert? Das Seil läuft oben lediglich durch einen in die Decke geschraubten Ring und ist straff nach unten gezogen zum am Boden liegenden Gegenpart des Profilstahls, einem mächtigen Gesteinsbrocken von jeweils etwa gleichem Gewicht.
Die hier geschaffene Stabilität erscheint prekär. Man will sich lieber nicht vorstellen, was geschähe, stiesse ein verrückter Besucher stark genug gegen eine der stählernen Säulen. Sie sind am Boden nicht befestigt, sondern einfach senkrecht aufgestellt. Bleiben sie im Fall der Fälle im Gleichgewicht? Sitzt oben die Ringschraube fest? Halten die Klemmen am Stahlseil? Droht allenfalls eine Kettenreaktion, wenn ein stürzender Träger weitere Seile aus ihren Verankerungen reisst?
Stahl, Stein und Seilverbindung bilden einundzwanzig Mal eine Elementarform des Sozialen ab.
Dávila nennt die Raumskulptur, die er eigens für den grossen Saal von Haus Konstruktiv eingerichtet und mit Gesteinsbrocken aus dem Raum Zürich realisiert hat, einen «Akt des Beisammenseins». Stahl, Stein und Seilverbindung bilden einundzwanzig Mal eine Elementarform des Sozialen ab: eine auf Sicherung gegen störende Einwirkungen angewiesene Beziehung, bei der man jedoch nicht wissen kann, ob sie wirklich gegen Attacken gefeit ist.
Mit der Vervielfachung dieser Grundsituation entsteht so etwas wie ein Modell von «Gesellschaft». Es spiegelt einen Zustand von Stabilität, oder besser: eine Illusion von Stabilität. Man weiss nicht so genau, wieweit auf die augenscheinliche Harmonie Verlass ist, weder bei diesem Werk noch beim menschlichen Erfahrungsfeld, an das es erinnert. Die Erschütterung der Welt durch Corona und der russische Aggressionsausbruch gegen die Ukraine und den Westen haben das Vertrauen in stabile Lebensverhältnisse untergraben. Allerdings unterscheiden sich diese aktuellen Gegebenheiten bloss graduell von der Unsicherheit, die unausweichlich zum Leben gehört. Die Condition humaine hat sich dem radikalen Nachdenken schon immer als prekäre Befindlichkeit offenbart. «The act of being together» nimmt diese irritierte Grundstimmung auf und übersetzt sie in eine skulpturale Installation von grosser Kraft.
Ein Stockwerk höher zeigt Jose Dávila das Ensemble der Rauminstallation «Will has moved mountains» und der korrespondierenden Malerei «Memory of a telluric movement», die auch der Ausstellung den Titel leiht.
Verbunden sind die beiden Arbeiten durch den weissen Würfel und das weisse Quadrat, die beide im gleichen Winkel gekippt sind. Das weisse Quadrat erscheint verrutscht und erweckt den Anschein, das vierte der fünf roten Rechtecke mit nach unten geschoben zu haben.
Der Titel spricht von der Erinnerung an eine tellurische Bewegung. «Tellurisch» meint eine Eigenschaft, welche die Erde als ganze, als Himmelskörper betrifft. Eine tellurische Bewegung ist ein Erdbeben – in Jose Dávilas Heimat Mexiko eine häufige Erscheinung. In dem fünfteiligen Bild macht er auf elementare Weise die Erdbebenerfahrung anschaulich. Allerdings tut er das unter Verzicht auf jede Dramatik und Emotion. Es geht einzig um die Bewegung, die hier aus minimalen graphischen Interventionen besteht: Verschiebung und Drehung von je einem der sechs Elemente.
In dem fünfteiligen Bild macht Dávila auf elementare Weise die Erdbebenerfahrung anschaulich, allerdings unter Verzicht auf jede Dramatik und Emotion.
Bei der Installation «Will has moved mountains» geht es ähnlich clean zu. Auf dem fast den ganzen Saal beanspruchenden flachen Podest sind vier grosse Einwegspiegel mit einer Spanngurte in kühnen Schräglagen gehalten. Unterschiedliche Objekte – Profilstahl, dicker Ast, Ölfass, Stein – verhindern das Wegrutschen der Spiegel. Die Spanngurte läuft um und über alle Spiegel und ist an den beiden Enden an Gewichten – dem genannten weissen Würfel aus poliertem Beton und auf der Gegenseite an einem massiven Balkenpaket – fixiert. Den hier wirkenden Kräften kann man dabei zuschauen, wie sie die zerbrechlichen Objekte in der Balance halten. Das ist von raumgreifender Dramatik und Eleganz.
Wie bei der Installation im grossen Saal geht es um prekäre Stabilität. Geriete auch nur einer der Spiegel um Weniges aus seiner definierten Schräge, so würde das Gebilde kollabieren. Es erscheint geradezu unwahrscheinlich, dass die Konstruktion stabil sein kann. Doch «der Wille hat Berge versetzt», wie der Werktitel sagt, und hat das scheinbar Unmögliche geschafft.
Was die tellurische Bewegung an Unordnung und Schaden hervorbringt, wird hier zum Spielmaterial.
Für dieses «Unmögliche» braucht es den Mut, mit dem instabilen Moment der Schräge zu spielen. Was die tellurische Bewegung an Unordnung und Schaden hervorbringt, wird hier zum Spielmaterial: Die Abweichung von der Stabilität des Lotrechten bringt eine Dynamik ins System, die man mit Gegendynamik ausbalancieren muss. Die Dinge treten in aktive Korrespondenzen zueinander, es entsteht ein Ökosystem der Objekte. Die ganze Natur und jegliche Kultur bestehen aus solchen Interdependenzen und Interaktionen.
«Will has moved mountains» ist ein Ballett von Einwegspiegeln. Der Spiegel steht in der Kunst für eine fundamentale Gegebenheit aller Kultur: das Abbilden und die Verdoppelung der Realität. Erst diese Doppelung schafft den Raum des Virtuellen, sie macht die Welt beobachtbar, bearbeitbar, gestaltbar und ermöglicht so das Entwerfen einer anderen Welt, an der sich die wirkliche messen und prüfen lässt. Auch die Selbsterforschung vor dem Spiegel ist ein solcher Vorgang. Das Selbst steht sich im virtuellen Raum gegenüber. Die physikalische Reflexion führt zur existentiellen Reflexion über die eigene Person und kann im Selbstporträt verdichtet werden.
Der Vorgang der Reflexion wird reflektiert, ein Grundelement aller kulturellen Prozesse wird zum kulturellen Thema, die Kunst handelt von der Kunst.
Indem Jose Dávila für seine Spiegel Einwegglas verwendet, fügt er eine weitere Ebene hinzu. Die sich im Spiegel betrachtende Person kann von der Gegenseite unbemerkt beobachtet werden. Der Vorgang der Reflexion wird reflektiert, ein Grundelement aller kulturellen Prozesse wird zum kulturellen Thema, die Kunst handelt von der Kunst. Es ist dies ein Topos, der in allen Kunstgattungen seit der Antike gepflegt wird und die Reflexivität künstlerischer Kreation zum Ausdruck bringt.
Mit Arbeiten wie «The rope sometimes bursts» zeigt sich Jose Dávila auch von einer humoristisch-sarkastischen Seite. Die ebenso launige wie perfekt ausformulierte Wandskulptur liest sich wie ein Kommentar zu den aktuellen Querelen um das EU-Embargo gegen russisches Erdöl.
Die Säulenhalle von Haus Konstruktiv, in der die obige Arbeit zu sehen ist, versammelt zahlreiche kleinere Skulpturen Dávilas sowie eine Serie von Gemälden, die sich mit der Ikonographie des Kreises in der neueren Kunstgeschichte befassen.
Die Skulpturen stehen auf Piedestals aus poliertem Beton (edel wie Marmor!) und repräsentieren ein Schaffen, das immer wieder Spannungen zwischen Objets trouvés, Naturgegenständen und kanonischen Formen der Museumskunst thematisiert. Dávilas Arbeiten bestechen mit Raffinesse und Akuratesse. Sie sind klar konzipiert, zeigen eine meisterliche Ästhetik und haben auch bei Verwendung von alltäglichen oder zufälligen Materialien eine Aura des Kostbaren.
Das Haus Konstruktiv ist ein vorgeprägter Ausstellungsort. Was immer dort gezeigt wird, steht vor dem kunsthistorischen Hintergrund dieses Museums und damit vor der Frage, wie das jeweilige Œuvre sich zur konstruktiv-konkreten Kunstrichtung verhalte. Auf den ersten Blick scheint das bei Jose Dávila ziemlich klar. Arbeiten wie die Kreisbilder oder «Memory of a telluric movement» sind zweifelsfrei konstruktive Kunst und entsprechen dem «Konkreten» im Sinne Theo van Doesburgs, der 1924 postulierte, es sei nichts konkreter als eine Linie, eine Fläche, eine Farbe.
«Memory of a telluric movement» erzählt eine Geschichte – für die Ahnen des Hauses und andere «Konkrete» fast schon ein Sakrileg!
Bei näherer Betrachtung jedoch ist die Zuordnung nicht so klar. Jose Dávila kann den Flächen selbst da, wo sie auf den ersten Blick wie freies Spiel aussehen, eine Bedeutung unterlegen. So erzählt das titelgebende «Memory of a telluric movement» eine Geschichte – für die Ahnen des Hauses und andere «Konkrete» fast schon ein Sakrileg! Dávilas Formen sind sich, darin gegen van Doesburgs Kunstkanon verstossend, nicht selbst genug, sie evozieren eine vielleicht traumatische Erinnerung und verarbeiten diese zu einem Bild, das die tellurische Unsicherheit in die zivilisatorische Ordnung integriert. Die grossen Rauminstallationen wiederum sind regelrecht narrativ aufgeladen. Sie verführen dazu, das Zusammenspiel der Gegenstände zu lesen und sich in der Deutung Schicht um Schicht vorzuarbeiten. Solches liegt im Haus Konstruktiv eigentlich nicht ganz auf der Linie. Dennoch verträgt sich das Museum hervorragend mit Dávilas Kunst und scheint an ihr Gefallen zu finden.
Museum Haus Konstruktiv, Zürich
- Jose Dávila – Memory of a Telluric Movement, kuratiert von Sabine Schaschl
und gleichzeitig
- Elisabeth Wild, kuratiert von Sabine Schaschl und Eliza Lips
- Neues aus der Sammlung, kuratiert von Sabine Schaschl, Evelyne Bucher und Eliza Lips
Alle Ausstellungen laufen bis 11. September 2022.