Das Museum hat elf Künstlerinnen und Künstler eingeladen, unter dem Motto «Welt aus den Fugen» je eine Installation einzurichten. So sind neun Räume entstanden, die auf unterschiedlichste Weise anregen und irritieren.
Die von Kurator Lynn Kost in den Räumen des Gigon-Guyer-Anbaus eingerichtete Schau überfordert die Besucherin und den Besucher gerade so, wie auch die gegenwärtige Welt sie überwältigt: Es herrscht ein Zuviel an Eindrücken und Widersprüchen, an Problemen und Zwiespältigkeiten, an Informationen und Rätseln. Im Grunde ist jeder heutige Mensch darauf trainiert, mit dem Ansturm von Gleichzeitigem irgendwie fertigzuwerden – oder damit zurande zu kommen, dass er mit der Welt eben nicht fertigwird.
Die Kunstgattung der Installation hat sich seit den 1960er-Jahren entwickelt, geht aber eigentlich auf Impulse zurück, die ein Marcel Duchamp mit seinen Ready Mades schon fünfzig Jahre zuvor gesetzt hatte. Hier wie dort werden Objekte aus ihrem genuinen Zusammenhang herausgelöst und in den Fokus einer zweckfreien Aufmerksamkeit gerückt. Der Kontext der Kunst macht sie zu Bedeutungsträgern, ohne ihnen klare Funktionen zuzuschreiben. Dadurch werden die Objekte zu frei flottierenden Artefakten, die nach Interpretation verlangen. Sie sprechen die Betrachtenden an, ziehen diese in einen Prozess des Verstehens (oder Nichtverstehens) hinein und konstituieren eine Erfahrung von Kunst.
Installationskunst potenziert solchen Interpretationsbedarf durch Raumgestaltungen mittels multimedialer Kombination von Objekten, Videos, Sounds, digitalen Interaktionen, Texten, Grafiken, Licht, Gerüchen. Besuchende begeben sich in die Installation hinein und werden physisch Teil von ihr. Das gewohnte Vis-à-vis zum Werk wird unterlaufen, eine objektive Sichtweise bleibt verwehrt. Jede Begegnung mit dem Werk ist individuell und einzigartig. Installationen sind Apparaturen der Irritation.
Die Antiquiertheit des Menschen
Allein schon die zeitlichen Strukturen, die einige der Winterthurer Installationen vorgeben, machen deutlich, dass hier Konzepte und Prozesse am Laufen sind, die man nur episodisch und fragmentarisch mitbekommen kann. Bereits die diversen Video-Loops von je 16 Minuten Dauer, die in Ed Adkins’ «Old Food» zu sehen sind, würden einen durchschnittlichen Museumsaufenthalt zeitlich ausfüllen. Fabien Giraud und Raphaël Siboni zeigen in ihrem «The Everted Capital» ein weiteres Video von 130 Minuten und Julian Charrière legt nochmals einen Film von 77 Minuten drauf.
Diese linearen Abläufe sind gewissermassen Fremdkörper in der Dichte des Gleichzeitigen, die da jeweils sorgsam aufgebaut ist. Aber auch die Betrachtenden mit ihrer menschlich-linearen Wahrnehmung sind irgendwie fehl am Platz. Mit dem planmässigen Zuviel legen die Installationen «Die Antiquiertheit des Menschen» – so heisst das 1956 erschienene visionäre Buch des Philosophen Günther Anders – bloss, wenn auch vielleicht ohne den tiefen Pessimismus, der bei Anders den Ton setzt.
Der Brite Ed Atkins (*1982) ist besonders als Videokünstler bekannt. In seiner Installation «Old Food» geben computergenerierte Videos mit weinenden Babys und Alten in ihrer schillernden Zwitterhaftigkeit von Natürlichkeit und Künstlichkeit einen nicht leicht lesbaren Kommentar zu den dominierenden Regalen voller Kostüme. Diese stammen aus dem Fundus des Theaters für den Kanton Zürich und hängen in langen Reihen dicht gedrängt als leere Rollen für Bühnenfiguren, gewissermassen als ein Arsenal der Verhaltensmöglichkeiten von Menschen. Der Raum stimuliert die Phantasie: Wie wäre es, wenn eine unternehmungslustige Schar sich über diesen Fundus hermachte, die Kleider und die damit verbundenen Rollen ausprobierte und in einem wilden Kostümfest die Säle in Beschlag nähme?
Die List der Kunst
Vielleicht können Menschen sich trotz ihrem Ausgeliefertsein an eine überfordernde Welt dem Verdikt ihrer Antiquiertheit widersetzen. Eine der Installationen zumindest kann man so lesen. Die schweizerisch-deutsche Objektkünstlerin Pamela Rosenkranz (*1979) verfolgt mit «Anamazon (Green, Blue, Green)» ein minimalistisches Konzept, indem sie fast nur mit Licht arbeitet. Grüne und blaue LED-Leisten tauchen den leeren Raum in ein fahles Licht, das alles entfärbt und die Besucher zu Zombies macht. Aus einem Infusionsbeutel tropft Wasser von der Decke und bildet am Boden eine Lache. Ein kleiner Bodenlautsprecher (von Amazon, selbstverständlich) lässt Geräusche des Urwalds (des Amazonas vermutlich) erklingen und evoziert akustisch eine Gegenwelt zum fahlen Todeslicht des Saals. Die Assoziationen liegen nahe: Amazon, der Tech-Gigant und Alles-Lieferant frisst den Detailhandel und trägt mit seinen Serverfarmen zum drohenden Klimakollaps bei. Die Regenwälder sterben, das Licht wird trüb, das Wasser knapp, das Leben farblos.
Doch «Anamazon» bietet auch einen Ausblick. Fällt der Blick auf die Pfütze am Boden, so entdeckt man darin die Spiegelung der Aussenwelt. Die Installation von Pamela Rosenkranz befindet sich in einem Raum, der über ein riesiges Fenster verfügt. Bei jeder Ausstellung gibt es als wandhohes Bild die Sicht auf ein freundliches Stadtviertel frei. Da man sich in der blaugrünen Lichtsuppe befindet, erscheint das natürliche Licht draussen rosa getönt, und selbst in der zur Installation gehörenden Wasserlache behauptet sich das Rosa – eine schöne kleine List der Kunst.
Kunstmuseum Winterthur:
Welt aus den Fugen. 9 Installationen
bis 14. August 2022