Es brodelt und gluckert, dann fliesst der Kaffee dampfend in die Tasse. Die Kaffeemaschine kommt aus der Schweiz und versieht ihren Dienst zuverlässig. Auch mit russischem Kaffee. Denn die Maschine steht in Moskau, in der Küche von Carola Schneider. Carola Schneider ist Russland-Korrespondentin für den österreichischen Radio- und Fernsehsender ORF.
Bevor sie allerdings nach Moskau kam, lebte sie in Zürich und war – ebenfalls für den ORF – Schweiz-Korrespondentin. Und auch wenn sich die Schweiz mit Russland nicht wirklich vergleichen lässt: Carola Schneider kennt sich auch schon von Berufs wegen in beiden Ländern aus.
Ihre Wohnung liegt in einem grossen Block, mitten in Moskau. In der Wohnung direkt darunter ist ihr Arbeitsplatz mit Büro, elektronischem Schnittplatz und einem kleinen Studio für Schaltungen zu Radio und Fernsehen in Wien. Kürzer könnte der Arbeitsweg nicht sein. Seit sieben Jahren lebt sie inzwischen hier und macht das, wovon sie seit ihrer Jugend Jahren geträumt hat: sie berichtet aus und über Russland.
Russland aus ihrer Sicht
Inzwischen hat sie auch ein faszinierendes und lebendiges Buch über Russland veröffentlicht. Sie nennt es «Mein Russland». Der Titel drückt schon aus, dass sie nicht neutral sein will, sondern dass sie aus ihrer ganz persönlichen Sicht von diesem Land berichtet. Und sie tut dies, indem sie über Menschen schreibt. Über Menschen in Russland, über Menschen, denen sie in ihrer Arbeit begegnet ist oder mit denen sie einfach befreundet ist, Junge und Ältere, solche, die eher unten durchmüssen, und andere die beruflich erfolgreich unterwegs sind. Auf dem Titelbild: ein Junge, der auf einem Kanonenrohr balanciert, dahinter die strahlendblaue Kuppel einer orthodoxen Kirche. Ein vielsagendes Bild von einem jungen Menschen, der den Weg in seine Zukunft im fragilen Gleichgewicht zwischen Demokratie und autoritärem Regime sucht, zwischen Militarismus und orthodoxen Glaubenssätzen oder Freiheit … und jederzeit abstürzen kann. Genau wie das Land selbst.
Russland aus russischer Sicht
Den Auftakt im Buch macht Ljudmila Alexejewa, 90 Jahre alt und eine Ikone der Menschenrechtsbewegung. «Eines Tages wird Russland ein demokratischer Rechtsstaat und zur europäischen Völkerfamilie gehören», sagt sie unerschütterlich, obwohl sie auch beifügt: «Wir sind wieder ein autoritärer Staat», und sie meint dies im Gegensatz zu jener Zeit gleich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Optimistisch stimmt sie aber die Unerschrockenheit jugendlichen Demonstranten, die sich nach Freiheit sehnten.
Im nächsten Kapitel unterhält sich Carola Schneider mit Wassilij Slonow, er ist Künstler in Krasnojarsk in Sibirien. Er sagt: «Eine solche Konzentration an Ungerechtigkeit, Unglück und Lüge, wie es sie in Russland gibt, ist ohne Ironie und Selbstironie nicht zu ertragen.» Ein Bauernpaar in Sibirien schickt sich dagegen in seine Situation und meint: «Es ist schon gut so, wie es ist.» Ganz unterschiedliche Personen werden hier porträtiert, die alle auf ihre Art eine klare Meinung haben, pro- oder anti-Putin, bis hin zum Rentner, der Jahre seines Lebens im Gulag und anschliessend in der Verbannung verbracht hat, sein Leben rückblickend aber als interessant bezeichnet und sogar Gedichte darüber geschrieben hat.
Einen weiten Bogen hat Carola Schneider gespannt und wenn man die Texte liest, hat man das Gefühl, selbst dabei gewesen zu sein und viel über Land und Leute erfahren zu haben.
Frühes Interesse an Russland
Woher kommt eigentlich dein Interesse an Russland, habe ich Carola Schneider vor gut einem Jahr gefragt, als ich sie in Moskau besuchte und wir in der Küche beim Kaffee sassen. «Das werde ich oft gefragt», antwortete sie, «aber ich kann es selber nicht genau sagen. Aber als ich mit ungefähr 17 Jahren aus reiner Neugier einen Russischkurs belegt habe, war mir sofort klar, dass ich das Land genauer kennenlernen möchte. Es war wohl eher eine emotionale Ebene, die da in mir angesprochen wurde».
Einige Monate später berichtetet sie mir, dass sie nun an einem Buch über Russland arbeite. Zum Schreiben hatte sie sich im Osten Österreichs in ein Bergdorf zurückgezogen. Inzwischen liegt das Buch vor, Carola Schneider ist wieder in Moskau und das Interview haben wir per E-mail geführt.
Wann hast du angefangen, Dich ernsthaft mit Sprache, Land und Kultur Russlands zu beschäftigen?
Als ich mich für das Dolmetsch-und Übersetzerstudium entschieden habe, das ich in den Sprachen Französisch und Russisch absolviert habe.
Seit wann hattest du den Wunsch, in Russland zu arbeiten?
Der entstand bei meinem ersten Russlandaufenthalt 1992. Ich war damals im Rahmen eines Studentenaustauschprogrammes in Moskau.
Kannst du dich an deine ersten Eindrücke erinnern, die du hattest, als du das erste Mal nach Russland gekommen bist?
Moskau war grau und die Geschäfte leer, es gab kaum etwas einzukaufen. Wie zu Sowjetzeiten standen die Menschen Schlange vor den Geschäften, um ein Stück Käse oder Milch zu kaufen. Aber mich hat die Aufbruchstimmung, die geherrscht hat, sehr beeindruckt und berührt. Die jungen Leute, mit denen ich unterwegs war, hatten trotz schwieriger Lebensbedingungen so viele Träume und Hoffnungen, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nun endlich frei zu sein, reisen zu können und Russland zu einem offenen, demokratischen Land zu machen. Das hat mich nicht mehr losgelassen und ich wollte seither nach Russland kommen, um hier zu leben und zu arbeiten.
Russland ist riesig ... Wieviel kennst du heute davon?
Russland ist das grösste Land der Welt. Alles kann man wohl nie kennen lernen.
Aber ich war schon im Norden, in Murmansk, in Karelien oder hunderte Kilometer nördlich des Polarkreises, auf der Halbinsel Jamal, wo nur Nomaden leben. Ich war einige Male in Sibirien oder auch im Fernen Osten Russlands, zum Beispiel auf der Insel Sachalin oder in der Jüdischen Autonomen Region. Auch im Süden des Landes war ich öfters, etwa in Sotschi oder im Kaukasus.
Welche Gegend, welcher Landesteil ist aus deiner Sicht am spannendsten oder schönsten?
Das ist eine schwierige Frage, weil jede Region auf ihre Art spannend ist. Ich bin sehr gern in Sibirien, weil ich die unendlichen Weiten dort mag, aber auch die Berge im südsibirischen Altai, und die Menschen. Die Sibirer haben in meinen Augen eine eigene Mentalität, sie sind naturverbunden, warmherzig, offen.
Seit du angefangen hast, dich mit Russland zu beschäftigen, hat sich das Land verändert. Wie nimmst Du die Veränderungen wahr?
Einerseits als politische Berichterstatterin, aber auch in deinem privaten Alltag und mit deinen russischen Freunden.
Russland steckt in einer schweren Wirtschaftskrise, die gab es vor einigen Jahren noch nicht. Ideologisch kapselt es sich immer mehr vom Westen ab, sieht ihn als Feind, der ihm Böses will und für alles verantwortlich gemacht wird, was im Land selbst schiefläuft. Das ist zwar vor allem die Lesart der politischen Propaganda, der Regierungspolitiker und der staatlich gesteuerten Medien und nicht unbedingt der gesamten Bevölkerung. Aber es ist ein Klima, das trotzdem spürbar ist.
Was meine Freunde angeht, so tut ihnen diese Entwicklung leid. Manche denken darüber nach, aus Russland wegzuziehen, um ihren Kindern bessere Perspektiven bieten zu können. Nicht nur wirtschaftlich. Sie möchten auch nicht, dass ihre Kinder in einem Schulsystem und einem Land aufwachsen, in dem ihnen beigebracht wird, die Aussenwelt als Feind zu sehen.
Ist Russland heute auf gutem Wege? Was meinst du?
Das kommt darauf an, wohin. Wenn man den Weg in Richtung einer offenen und demokratischen Gesellschaft, so wie wir in Europa sie verstehen, oder einer offenen, wettbewerbsfähigen Wirtschaft meint, dann nicht. Im Moment geht Russland ideologisch, aber auch rechtlich rückwärts. Bürgerliche Freiheiten werden eingeschränkt, statt ausgebaut, ideologisch werden längst vergangen geglaubte Feindbilder aus Sowjetzeiten hervorgeholt und die Wirtschaft wird immer stärker staatlich kontrolliert und geknebelt. Aber die Russen selbst sagen von ihrem Land, dass es unvorhersehbar sei. Es kann sich plötzlich schnell alles ändern und dann sieht es wieder anders aus.
Carola Schneider: Mein Russland. Kremayr & Scheriau 2017