Ljudmila Alexejewa ist Anfang Dezember in Moskau im biblischen Alter von 91 Jahren gestorben. Die kleine fragile Frau zählte zu den prominentesten und am meisten respektierten Figuren der heterogenen und häufig zerstrittenen Bürgerrechtsbewegung in Russland. Ihr Prestige verdankte sie nicht zuletzt dem Umstand, dass sie schon während der diktatorischen Sowjetherrschaft zu den Aktivistinnen der damaligen Dissidenten (alles andere als eine kompakte Bewegung) gehört hatte. 1976 gründete sie mit Gesinnungsfreunden die Helsinki-Gruppe, die Menschenrechtsverletzungen dokumentierte und dagegen protestierte.
Putins rote Rosen zum Begräbnis
Ein Jahr später wurde Ljudmila Alexejewa vom Breschnew-Regime zur Ausreise aus der Sowjetunion gezwungen. Sie lebte mit ihrer Familie mehr als anderthalb Jahrzehnte in den USA und veröffentlichte dort mehrere Publikationen über die russische Menschenrechtsbewegung. Nach der unerwarteten Auflösung des Sowjetreiches kehrte sie 1993 in ihre Heimat zurück und engagierte sich für den Aufbau zivilrechtlicher Organisationen. Während Putins Präsidentschaft wurde sie als Mitglied in den russischen Menschenrechtsrat berufen.
Diese Beförderung hinderte die unerschrockene kleine Frau indessen nicht daran, Putins Methoden, die nach seiner zweiten Präsidentschaft immer autoritärer wurden, scharf zu kritisieren. Obwohl Ljudmila Alexejewa selbst in der Krim geboren war, prangerte sie die Annexion der Halbinsel im Jahre 2014 in aller Öffentlichkeit als Völkerrechtsbruch und dessen offizielle Begründung als frivole Lügen an.
Interessanterweise bezeugte ihr Putin trotzdem demonstrativen Respekt. Er besuchte sie – begleitet von Kameras – in ihrer Wohnung, um ihr zum 90. Geburtstag zu gratulieren. Auch bei der Trauerfeier liess es sich der Kremlchef nicht nehmen, persönlich zu erscheinen und einen Strauss roter Rosen niederzulegen. Solche Gesten sind gewiss auch auf innen- und aussenpolitische Wirkungen kalkuliert. Sie sind zugleich ein Hinweis darauf, dass die politischen Verhältnisse im heutigen Russland um einiges komplexer und durchlässiger geworden sind als zu den Zeiten der Sowjetherrschaft, wie sie Ljudmila Alexejewna noch unter Stalin, später während Chruschtschows sogenanntem Tauwetter und dann Breschnews Stagnationsjahren erlebt hatte.
Totalitäre und autokratische Herrschaft
Die verstorbene Bürgerrechtlerin war trotz aller beherzten Kritik an den politischen Zuständen in der Ära Putin klarsichtig genug, die Unterschiede zu den sowjetischen Repressionsmethoden nicht zu verwischen. Totalitäre und autoritäre Herrschaftssysteme sind nicht das Gleiche. Bei aller Kritik, so betonte sie 2013 in einem Interview mit der «New York Times», seien heute die Zustände doch viel besser als zu den sowjetischen Zeiten. Als sie als Bürgerrechtlerin begonnen habe, habe niemand geglaubt, dass die Sowjetunion je auseinanderbrechen würde. «Die Geschichte ist lang, aber die individuelle Lebenszeit ist kurz», fügte sie hinzu.
Selbst nach der Annexion der Krim und Putins militärischer Einmischung in der Ostukraine im Jahre 2014 hielt Ljudmila Alexejewa an ihrer Voraussage fest, Russland werde bis 2017 einigermassen demokratisch sein. Vielleicht werde sie sich um ein paar Jahre irren, aber sie werde ihre Voraussage nicht ändern. Und dann erinnerte sie an ihren einstigen dissidenten Mitstreiter Andrei Amalrik, der 1969 im Westen eine Schrift mit dem Aufsehen erregenden Titel «Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?» veröffentlicht hatte. Die Antwort lautete: wahrscheinlich nicht. Sie habe Amalrik damals ausgelacht, sagte die fast 90-jährige Alexejewa in einem Gespräch. Die Sowjetunion ist dann 1991, also sieben Jahre nach 1984, tatsächlich auseinandergebrochen.
Gut möglich, dass auch Ljudmila Alexejewa Demokratie-Voraussage bestätigt werden wird – wenn auch mit Verzögerung, wie im Fall von Amalriks Prognose.