Der Präsident ist die wichtigste und die mächtigste Person in der libanesischen Politik. Das Land ist tief gespalten. Der Präsident muss dafür sorgen, dass es nicht auseinanderbricht. Gefragt ist also eine Person, die von den beiden wichtigsten Lagern des Landes respektiert wird. Auf der einen Seite steht die pro-syrische "Allianz des 8. März", die von Hizbullah angeführt wird. Auf der andern Seite befindet sich die "Allianz des 14. März" unter der Führung des sunnitischen Politikers Saad Hariri. Beide Allianzen drohen, das Land zu zerreissen.
Beide dieser verfeindeten Lager bestanden schon vor dem syrischen Bürgerkrieg. Doch dieser hat dazu geführt, dass sie sich heute noch misstrauischer gegenüberstehen als zuvor. Hizbullah gehört zu den Verbündeten des syrischen Regimes, zusammen mit Iran und mit Russland. Hariri und seine Verbündeten unterhalten gute Beziehungen zu Saudi-Arabien. Das Hariri-Lager unterstützt, soweit es möglich ist, die syrischen Aufständischen und sieht sich selbst als Freund der Amerikaner und der Nato-Staaten.
Streit um die Auslieferung der Hariri-Mörder
Neben dem Streit um Syrien gibt es zwischen den beiden Rivalen einen weiteren bitteren Konflikt. 2005 war Saad Hariris Vater, der langjährige Ministerpräsident Rafiq Hariri, ermordet worden.
Das Internationale Sondergericht in Den Haag hat zwei Mitglieder der Hizbullah des Mordes beschuldigt und angeklagt. Doch Hizbullah weigert sich, die beiden Hauptangeklagten dem Gericht auszuliefern. Anderseits ist der libanesische Staat ist nicht in der Lage, die Auslieferung durchzusetzen. Hizbullah ist politisch und militärisch zu stark, um einer Auslieferung gezwungen zu werden. Der Prozess in Den Haag läuft daher in Abwesenheit der beiden Hauptangeklagten.
19 Wahlgänge für Soleiman
Das Mandat des bisherigen Präsidenten, Michel Soleiman, endet am 25. Juni. Im März begann offiziell die Kampagne für die Wahl seines Nachfolgers. Der Präsident muss ein Maronit sein. Er wird gewählt vom Parlament.
Die Wahl von Soleiman war äusserst schwierig gewesen. 19 Mal war das libanesische Parlament zwischen Oktober 2007 und Juni 2008 zusammengetreten. Hizbullah und seine Verbündeten torpedierten eine Wahl, indem den Sitzungen fern blieben. So konnte das nötige Quorum für die Wahl nicht erreicht werden.
Unter ausländischem Druck fand schliesslich in Doha (Katar) eine Vermittlungskonferenz aller Beteiligten statt. Man handelte aus, dass Michel Soleiman, bisher Kommandant der libanesischen Armee, Präsident werden solle. Daraufhin traf sich das Parlament in Beirut erneut. Mit einer Verspätung von drei Viertel Jahren wurde dann ein Präsident, Soleiman, gewählt.
Attentate
Damals waren die Spannungen zwischen den beiden politischen Blöcken bedeutend geringer als heute. Seither ist der Bürgerkrieg in Syrien ausgebrochen und Hizbullah kämpft offen auf der Seite der Asad-Regierung. Anderseits unterstützen Hariris Freunde inoffiziell - aber nach Kräften - die syrischen Aufständischen
Immer wieder sind beide Seiten Ziel von Bombenattentaten der anderen Seite. Saad Hariri lebt in Saudi-Arabien und in Paris. In Libanon wäre er seines Lebens nicht sicher. Auch Nasrallah, der Chef von Hizbullah, fürchtet Anschläge. Er spricht – von einem geheimen Ort aus – via Fernsehen zu seinen Anhängern. Einer seiner Vorgänger in der Hizbullah-Führung war von Israel entführt worden, zwei weitere wurden von israelischen Kräften erschossen.
Eine Stimme für die Schiiten
Hizbullah führte stets eine doppelte Politik. Einerseits trat die Gruppierung als Kampfgruppe gegen Israel auf. Als solche beanspruchte sie, die "wahren" Interessen Libanons gegen Israel zu "verteidigen". Andrerseits wirkte Hizbullah auch als Vertreter und Förderer der libanesischen Schiiten. Sie waren vor dem Auftreten des Hizbullah (gegründet 1982 mit Hilfe von iranischen Revolutionswächtern) eine vernachlässigte Randbevölkerung in Libanon. Während 22 Jahren (1978 -2000) standen die südlibanesischen Schiiten manchmal teilweise manchmal völlig unter israelischer Besatzung. Die schiitische Religionsgemeinschaft ist wahrscheinlich die grösste in Libanon. Doch erst unter der Führung Hizbullahs - und deren Vorgängerpartei "Amal" - hat sie begonnen, in der libanesischen Politik entscheidend mitzusprechen.
Streit zwischen Soleiman und Hizbullah
Seitdem die Hizbullah-Kämpfer offen auf Seiten Asads Krieg führen, haben sich die Beziehungen mit Präsident Soleiman verschlechtert. Er tritt von Amtes wegen und aus Überzeugung für die Interessen des Staates Libanon ein. Hizbullah desolidarisiert sich, indem es offen in den Bürgerkrieg des Nachbarstaates eingreift. Soleiman hat dies kritisiert, und Hizbullah hat sich klar von ihm distanziert und jede künftige Unterstützung entzogen.
Soleiman hat deutlich gemacht, er werde nicht für eine zweite Amtszeit kandidieren. All dies zeigt, wie schwer es sein wird, einen Nachfolger für den heutigen Präsidenten zu finden.
Chancenlose Kandidaten
Bisher gibt es nur zwei Kandidaten. Beide gehören zum extremen Flügel ihres Lagers. Aus diesem Grund werden sie keine Chancen haben, da sie für die Gegenpartei nicht wählbar sind.
Auf der Seite von Hizbullah kandidiert General Michel Aoun, Führer einer Maroniten Partei ("Freie Patriotische Bewegung"), die sich Hizbullah angeschlossen hat. Auf der Hariri-Seite bewirbt sich Samir Geagea, Chef der maronitischen Miliz, die sich im libanesischen Bürgerkrieg "Forces Libanaises" nannte. Er hat nach dem Bürgerkrieg, als die Syrer in Libanon dominierten, elf Jahre im Gefängnis verbracht.
Gespaltenes Parlament
Im Parlament bestehen komplexe Verhältnisse: der Hariri-Block verfügt über 71 Abgeordneten, der Hizbullah Block über 57. Das Parlament hat 128 Sitze. Die absolute Mehrheit beträgt als 65. Für ein Quorum braucht es 85 Abgeordnete.
Dies bedeutet, dass Hizbullah zusammen mit seinen Verbündeten das Zustandekommen eines Quorums verhindern können, indem ihre Abgeordneten das Parlament boykottieren. Dies werden sie tun, solange kein Kandidat gefunden werden kann, dem sie zustimmen.
Ein Kern mit Randgruppen
Beide Blöcke sind heterogene Allianzen: Sie bestehen je aus einem Kern und mehreren Randgruppen, die mit dem Kern verbündet sind. Deshalb sind Manöver im Parlament möglich. Zu den Randgruppen, die mit Hisbullah zusammen gehen, gehört eine schiitische Gruppe unter Parlamentspräsident Berri ("Amal" genannt). Ebenso unter Hizbullah-Einfluss steht eine Maronitengruppe unter General Aoun. Sie nennt sich "Freie Patriotische Bewegung" und zählt 27 Abgeordnete.
Auf der andern Seite bildet die „Zukunftsbewegung“ von Hariri den Kern. Ihm beigeordnet stehen Gruppen von „Unabhängigen“ und von Maroniten aus Nordlibanon. Dabei sind auch die Sozialisten des Drusenfürsten Jumblat sowie die libanesische Phalanges-Partei. Die Hariri-Koalition ist lockerer zusammengesetzt als die Hizbullah-Seite.
Da beide Blöcke keine feste Einheit bilden, ist es möglich, dass eine der Randgruppen zur andern Koalition übertritt. Das könnte die Mehrheitsverhältnisse grundlegend verändern. Walid Jumblat mit seiner Drusenpartei hat früher mehrmals die Seiten gewechselt.
Parlamentswahlen im August?
Das Parlament ist überaltert. Sein Mandat ging im Juli des vergangenen Jahres zu Ende. Es wurde jedoch um ein Jahr verlängert, weil ein neues Wahlgesetz formuliert werden sollte. An der Konferenz von Doha im Jahr 2009 hatten die Parlamentarier versprochen, ein neues Wahlgesetz auszuarbeiten. Dank diesem Versprechen war die Wahl von Soleiman zustande gekommen. Doch nicht zustande gekommen ist das Wahlgesetz.
Das Parlament müsste aber im kommenden August gewählt werden. Vor diesem Termin sollte ein Wahlgesetz fertig sein. Doch zunächst hat das alter Parlament noch eine dringendere Aufgabe: die Wahl eines neuen Präsidenten.
Eine neunmonatige Regierungskrise
Was die Regierung betrifft, so hat Libanon soeben eine Regierungskrise von neun Monaten durchgemacht. Sie wurde beendet, weil der Präsident Druck auf die verfeindeten Koalitionen ausübte. Beide Seiten sahen schliesslich ein, dass das Land eine Regierung brauche für den Zeitpunkt, in dem der Präsident neu bestellt werden muss. So kam eine Übergangsregierung unter dem Sunniten Tamim Salam zustande. Ihre Hauptaufgabe soll sein, die Präsidentenwahl und das Wahlgesetz über die Bühne zu bringen. Dann soll das nächste Parlament im August gewählt werden.
Erste Wahlsitzung Ende April?
Die Konsultationen über mögliche Präsidentschaftskandidaten sollen Ende April beendet sein. Dann will der Parlamentspräsident eine erste Wahlsitzung einberufen. Es ist jedoch zu erwarten, dass Hizbullah und seine Verbündeten dem Parlament fernbleiben. So werden sie die Bildung eines Quorums verhindern – es sei den, in der Zwischenzeit würde eine Person gefunden, deren Kandidatur alle zustimmen können.
Generalstreik der Staatsangestellten
Dieser Tage wird das Übergangskabinett von einem Generalstreik der Staatsangestellten herausgefordert. Es gibt seit Monaten einen Gesetzesvorschlag, nach dem die Gehälter aller Staatsangestellten erhöht werden sollen. Doch der Vorschlag ist nie Gesetz geworden, weil es keine Regierung gab, die ihn dem Parlament hätte vorlegen können. Unklar war auch wie die durch die Gehaltserhöhung bedingten Mehrausgaben des Staates von einer Milliarde Dollar gedeckt werden sollten. Die Staatsangestellten sind nun zur Tat geschritten, um die Regierung zu zwingen, sich prioritär mit ihren Forderungen zu befassen.
Die Flüchtlingswelle aus Syrien
Man muss daran erinnern, dass all diese Kämpfe sich in einem Land abspielen, das durch die Flüchtlingsflut aus Syrien über alle Massen beansprucht ist. Die Zahl der Flüchtlinge hat eine Million überstiegen, und die Flüchtlingswelle ebbt keineswegs ab. Das heisst, jeder Sechste, der heute in Libanon lebt, ist ein Flüchtling aus Syrien. Neben ihnen gibt es noch die Langzeitflüchtlinge aus Palästina. Die libanesische Verwaltung lehnt jede Verantwortung für das Wohlergehen oder auch nur für das blosse Überleben der syrischen Flüchtlinge ab. Sie sind auf die internationalen Hilfsorganisationen angewiesen – ebenso auf Hilfe, die ihnen ihre libanesischen Gastgeber freiwillig zukommen lassen.
Auch unter den Flüchtlingen gibt es politische Spannungen. Ihre Hauptzahl gehört zu den Gegnern Asads. Doch Agenten und Sympathisanten des Asad-Regimes finden sich ebenfalls unter ihnen. Auch diese Konflikte wirken sich auf Libanon aus, indem sie die Antagonismen zwischen den beiden politischen Koalitionen des Landes weiter verstärken.