Nach der Annahme des quer durch alle Parteien umstrittenen Gesetzes durch die Nationalversammlung im Dezember und den Senat im Januar hatte die Türkei ihren Botschafter zurückbeordert und eine ganze Liste von Sanktionen angedroht, falls es in Kraft treten sollte. Die politische und militärische Zusammenarbeit sollte eingestellt und keine neuen Handels- und Industrieverträge mehr abgeschlossen werden. Die türkische Presse rief zu einem Boykott französischer Waren auf, wovor die Regierung aber zurückschreckte, und lief Sturm gegen Präsident Sarkozy. Sein Aussenminister Juppé warnte mehrmals nachdrücklich und öffentlich vor einem solchen Gesetz. Die Regierungspartei stand keineswegs geeint hinter ihrem Präsidenten.
Schon 2007 versprochen
Dieser hatte bereits 2007 ein solches Gesetz versprochen. Die starke armenische Lobby spielte ihre Rolle, aber auch französisches Misstrauen gegen die Türkei und ihr Drängen in die EU. Sarkozy wurde von der Türkei vorgeworfen, er habe die Vorlage noch kurz vor den Präsidentenwahlen mit Blick auf eine halbe Million armenischstämmiger Wähler durchbringen wollen. Jetzt stellte er, sieben Tage vor den wahlbedingten Parlamentsferien, eine neue Version des umstrittenen Textes in Aussicht, die aber keine Aussicht hat, vor den nächsten Legislaturwahlen, die im Juni auf die Präsidentenwahl folgen, behandelt zu werden.
Der sozialistische Präsidentschaftskandidat Hollande, der mit zahlreichen Sozialisten für das Gesetz stimmte, hat dagegen sofort erklärt, er werde, falls gewählt, das Problem aufgreifen und eine beruhigende und versöhnliche Lösung finden. Damit ignorierte er allerdings ganze Teile der Begründung des Verfassungsgerichtes, ganz abgesehen davon, dass es für die Türkei, wie man weiss, auch heute in dieser Frage noch keinen Kompromiss gibt.
Wackeliges Erstgesetz
Der Verfassungsrat beschied nämlich erstens, dass das Gesetz von Januar 2001, das die türkischen Massaker an den Armeniern im damaligen osmanischen Reich, denen Zweidrittel oder 1,2 Millionen der armenischen Bevölkerung zum Opfer fielen, als Genozid bezeichnete, nur deklaratorischen und keinen normativen Charakter habe. Es könne deshalb nicht als Grundlage für ein Folgegesetz dienen, das, zweitens, eine unverhältnismässige Einschränkung der Meinungsfreiheit mit sich bringe. Das Parlament stütze sich allein auf sich selbst.
Historiker und Juristen begrüssten diese Grenzziehung parlamentarischer Zuständigkeit. "Le Monde" schrieb: "Das Parlament ist nicht ein Tribunal der Geschichte". In solchen Kommentaren handelt es sich nicht um eine Relativierung des Völkermordes an den Armeniern, sondern um Misstrauen über den politischen Missbrauch der Geschichte auf Kosten einer offenen Debatte. Dies betrifft auch den Hang, sogenannte Memorial-Gesetze zu produzieren, die keine juristische Basis haben. Einige Stimmen mahnten auch, die eigenen Massaker - in der Vendée während der Revolution und im Algerien-Krieg - nicht zu vergessen, statt sich auf ausländische Grausamkeiten zu konzentrieren. Die Türkei stürzte sich dankbar auf das Argument des Algerienkrieges - als sei dies eine Entschuldigung für das osmanische Reich.
Unterschiede zum Holocaust
Strafbar ist in Frankreich nach wie vor die Leugnung des Holocaust aufgrund der Loi Gayssot von 1990. Der Verfassungsrat hat zu diesem Gesetz nie Stellung genommen, wohl aber das Appelationsgericht. Dieses stellte fest, dass das Gesetz der Europäischen Menschenrechtserklärung entspreche; es hat deshalb - im Mai 2010 - keine Verfassungsprüfung an den Verfassungsrat zugelassen. Ohne dessen Entscheidung bleibe das Gesetz umstritten, erklärte ein Rechtsprofessor der Sorbonne. Es ist zu befürchten, dass dies einigen hartnäckigen Negationisten nicht entgeht. Es bestehen aber einige wichtige Unterschiede, abgesehen vom unvorstellbaren Ausmass und Charakter der "Endlösung". Frankreich war mit Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Juden, und das Gesetz Gayssot konnte sich auf die Urteile der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse berufen, das heisst auf eine unabhängige juristische Instanz, und den dieser vorliegenden Fakten. In Anspielung auf den Holocaust hat das Verfassungsgericht in seiner neusten Entscheidung deutlich erklärt, dass in gewissen Fällen "notwendige und angepasste" Einschränkungen der Meinungsfreiheit zulässig seien.