Neuerdings behaupten dort manche Zeitgenossen, sich zu schämen, sollten sie noch ein Flugzeug benutzen, was sie natürlich nicht mehr tun. Denn ihnen wurde wieder und wieder vorgerechnet, wie umweltschädlich das Fliegen ist.
Wer sich fürs Fliegen schämt, reagiert damit auf blosse Zahlen, denn die CO2-Emissionen sieht und riecht man nicht. Man kann fragen, ob Zahlen wirklich Schamgefühle auslösen können. Auslöser für Scham sind in der Regel Situationen, die vom Einzelnen als extrem peinlich erlebt werden. Dazu gehören konkrete Personen, gegenüber denen man Scham empfindet. Im Extremfall kann man sich vor sich selber schämen, aber das ist nur möglich, weil das Innere von anderen konkreten Personen imaginär bevölkert ist.
Wenn man sich aber angeblich dafür schämt, dass man zu viel Energie verbraucht beziehungsweise Schadstoffe emittiert, fehlt derjenige, gegenüber dem das Gefühl der Scham überhaupt erst entstehen kann. Ist es ein Nachbar, sind es Migranten oder noch ungeborene Generationen? Das ist reichlich unbestimmt.
Es sei denn, man ist Mitglied einer Gruppe, für die das Fliegen tabu ist. Wer fliegt, macht sich in den Augen dieser Gruppe unmöglich. Wer zu dieser Gruppe gehört und sich dennoch erdreistet zu fliegen, ist blamiert bis auf die Knochen und empfindet ihr gegenüber Scham. Eine solche Gruppe ist elitär: Sie hat eine weit verbreitete Verhaltensweise als schädlich erkannt und lehnt sie vehement ab. Alle anderen, die noch nicht zu dieser Einsicht gelangt sind, erscheinen buchstäblich als Zurückgebliebene. Wohin das führen kann, lehrt die politische Geschichte.
Sprachlich ist es nicht einfach, die Gefühle auszudrücken, die mit unserer Rolle als Schädiger der Umwelt verknüpft sind. Wer nicht zum sprachlichen Überschwang neigt, wird den Begriff der Scham vermeiden. Aber welche Worte kommen den Gefühlen nahe, die mit dem Wissen verbunden sind, dass der eigene Lebensstil für die Um- und Nachwelt allzu belastend ist? Wären wir nur böse Verursacher, könnte man treffend von Schuldgefühlen sprechen. Aber in den meisten Fällen sind wir keine Verursacher, sondern nur Nutzer und Konsumenten. Wir sind winzige Teile verzweigter Systeme, die unabhängig von uns ihre Schäden verursachen. Unsere individuelle Schuld ist daher vernachlässigbar klein. Gleichwohl bleibt ein merkwürdiges Unbehagen. Wie kann man es benennen?
Das Christentum sprach von Sünde. Aus eigener Kraft konnte der Einzelne sich nicht von der Sünde befreien, aber er hatte die Möglichkeit, ein mehr oder weniger gottgefälliges Leben zu führen. Statt vom gottgefälligen Lebenswandel würde man heute eher von einem Leben im Einklang mit der Natur sprechen. Dieser Einklang lässt sich selbst beim besten Willen nur tendenziell erreichen. Aber anders als in der weitgehend vergangenen Religion haben wir für dieses Unvermögen kein treffendes Wort. Scham ist es ganz sicher nicht.