Der Krieg ist zu Ende: Plötzlich strömt die Pariser Crème de la Crème zu ihren Auftritten im Club „Tabou“ in der Rue Dauphine. Sie singt, sie tanzt, meist barfuss. Ihre sinnliche Stimme geht unter die Haut.
„An diesem Ort des ‚Verderbens‘ werfen sich die schicken Damen vom rechten Seine-Ufer in die Arme ihrer Geliebten; manchmal ist es auch nur der Ehemann.“ So beschreibt Juliette Gréco in ihren Memoiren *) ihre Anfänge als umschwärmte Chansonnière.
„Déshabillez-moi“
Umschwärmt – und von der entsetzten Bourgeoisie verachtet. Ihr Lied „Déshabillez-moi, déshabillez-vous“ wird im Radio verboten. Ihr lasziver Blick treibt Männer ins Land der Träume und ihre Ehefrauen auf die Palme.
Einmal klopft ihr der Direktor der französischen Münzanstalt auf den Hintern. Juliette schlägt ihm die Faust ins Gesicht. Am Tag danach wird der Direktor von General de Gaulle empfangen. Woher denn der Bluterguss unter dem Auge stamme, will de Gaulle wissen. „Ach, ich bin in eine Tür gerannt“, antwortet der Direktor. Juliette erinnert sich: „In Paris wird geklatscht. Der Name der Tür stand schon bald in der Klatschpresse.“
Ihre Welt ist das linke Seine-Ufer, Saint-Gérmain-des-Prés, „dieses grosse Dorf, die Heimat einer enthusiastischen Jugend“. Hier im Café de Flore und im Deux-Magots trifft sie Picasso, Jacques Prévert, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Albert Camus, Jean Cocteau, Marguerite Duras. „Das Bistrot wird meine Universität“, sagt sie.
„Das ist eine Tochter zu viel“
Schon als kleines Mädchen liebt sie den Tanz, nur ans Singen denkt sie nicht. Ihre Kindheit und Jugend sind nicht nur schön. Der Vater, ein gewalttätiger korsischer Polizist, sagt bei ihrer Geburt: „Das ist eine Tochter zu viel.“ Die Mutter ruft ihr einmal zu: „Du bist die Frucht einer Vergewaltigung“ und schickt sie mit ihrer älteren Schwester Charlotte zu den Grosseltern.
Die Mutter kämpft 1936 auf Seiten von Léon Blum für die Volksfront-Regierung und ist im Widerstand gegen die Deutschen tätig. Bei Kriegsbeginn 1939 wird Juliette in ein katholisches Internat in Montauban im Südwesten Frankreichs geschickt. Dort greift eine Nachtaufseherin den Mädchen Nacht für Nacht unter das Nachthemd. Juliette erzählt davon und wird von der Schule verwiesen. Die Mutter verteidigt sie nicht. Mit zwölf Jahren darf Juliette eine Ballettschule besuchen.
Mutter und Schwester im Konzentrationslager
Im September 1943 wird die Mutter von der Gestapo festgenommen. Auch Charlotte und Juliette werden in Paris festgesetzt, in Handschellen gelegt, geschlagen und ins Gefängnis von Fresnes südlich von Paris geworfen.
„Zum Duschen müssen sich die Frauen ausziehen, die Wärter schauen mit schmutzigen, perversen Blicken und einem spöttischen Gelächter zu. Nie mehr werde ich mich vor jemandem entkleiden können.“
Schliesslich wird Juliette freigelassen. Doch die Mutter und Charlotte werden ins Konzentrationslager Ravensbrück und später in ein Aussenlager von Flossenbürg nahe der tschechoslowakischen Grenze deportiert. Dort leisten sie in einer Munitionsfabrik Zwangsarbeit.
Kommunistin auf Zeit
Juliette hat Glück. Sie wird in der Schauspielschule angenommen und spielt in der Comédie-Française eine kleine Rolle in einem Stück von Paul Claudel. „Jetzt gehöre ich zur Familie der Schauspieler, zu diesem Stamm, der sich im Flore und Deux-Magots trifft.“
Am 25. August 1944 wird Paris befreit. Mädchen jubeln den französischen Soldaten zu. Juliette klettert auf die einfahrenden Panzer und umarmt die Soldaten. Jetzt tritt sie der kommunistischen Jugend bei, zu der auch Marguerite Duras gehört. Auch wenn sie die Kommunisten lange Zeit „mit Leib und Seele“ unterstützt, wendet sie sich langsam vom Kommunismus und seinen „Irrwegen“, wie sie sagt, ab. Jetzt trifft sie auch ihre Mutter und ihre Schwester wieder, die ausgemergelt in Paris angekommen sind.
Das Idol der Nachkriegsjugend
Ihre einflussreichen Freunde entdecken ihre Talente und fördern die jetzt 18-jährige Juliette. „Ein Traum wird wahr, ich spiele endlich eine richtige Theaterrolle.“ Auch am Radio tritt sie auf und verdient sogar etwas Geld. Zusammen mit ihrer Schwester leistet sie sich ein Zimmer im „Hôtel La Louisiane“ in Saint-Gérmain-des-Prés, von dessen Fenster aus man den Markt in der Rue Buci sehen kann. Im gleichen Zimmer wohnte früher Jean-Paul Sartre. Er hatte dort sein Velo an die Decke gehängt, um mehr Platz zu haben.
Jetzt beginnt ihr rasanter Aufstieg. Von der Côte d’Azur bis nach Paris kleiden sich die Mädchen wie sie: Pony-Schnitt mit langen Haaren, kohlrabenschwarze Schminke um ihre Augen, enge schwarze Hosen. Die Journalisten nennen sie „die Muse von Saint-Gérmain-des-Prés“. Sie ist zum Idol der Nachkriegsjugend geworden.
„Gréco, wollen Sie nicht singen?“
Die Männer fliegen ihr nur so zu. Sie hat eine Affäre mit Sacha Distel, trifft Charlie Parker, Duke Ellington und verliebt sich in Miles Davis. Einmal sitzen Juliette und Miles in einem Hotelzimmer in New York und bestellen zu essen. Der weisse Kellner nimmt die Bestellung auf, doch das Essen kommt nicht. Miles Davis kommentiert: „Wenn Du nicht als Negerhure gelten willst, darfst du dich nie mehr mit mir zeigen.“
Nach dem Besuch des Restaurants „La Cloche d’Or“ auf dem Montmartre fragt sie Jean-Paul Sartre auf der Strasse plötzlich: „Gréco, wollen Sie nicht singen?“ Und so beginnt es. Im „Boeuf sur le toit“ ist Première. Das Publikum liegt zu ihren nackten Füssen.
Scheidung nach der Entbindung
Sie trifft Léo Ferré, Georges Brassens, Jean Ferrat, Charles Aznavour, Serge Gainsbourg, Charles Trenet. Ferré komponiert für sie „Jolie môme“. Mit Jacques Brel verbindet sie eine lebenslange Freundschaft. Serge Gainsbourg schreibt für sie „L’Accordéon“.
Regisseur Jean-Pierre Melville bietet ihr die erste Filmrolle an. Sie verliebt sich in den Schauspieler Philippe Lemaire und bekommt eine Tochter. Nachdem sie entbunden wurde und das Spital verlassen hatte, teilt sie ihm mit, dass sie sich scheiden lasse. „Er langweilte mich.“
Eklat in Gstaad
Ihre offenen Haare, ihre dunkle Stimme und ihr enganliegendes Kleid waren ein Skandal, ein Tabubruch. „In Gstaad trat ich bei einer sehr eleganten Soirée auf. Das Publikum war derart unkonzentriert und nur an seinem mondänen Getuschel interessiert, dass ich die Bühne verliess und nur mit Pumps an den Füssen durch den Schnee zurück ins Hotel stapfte.“
Jetzt trifft sie Simone Signoret, Orson Welles, Ingrid Bergmann und Audrey Hepburn. Yves Montand mag sie nicht. In New York verliebt sie sich in Darryl Zanuck, den legendären Filmproduzenten. Eine lange Liebesgeschichte beginnt, unterbrochen von andern Affären. Zanuck kocht vor Eifersucht. Einmal schlägt sie auf ihn ein. „Es ist zwecklos“, sagt sie „eine Wildkatze lässt sich nicht am Schwanz festhalten“.
„Du spinnst“
Dreimal ist sie verheiratet. Nach der kurzen Ehe mit Philippe Lemaire, dem Vater ihrer Tochter, heiratet sie 1966 Michel Piccoli. Als sie ihm die Scheidung bekannt gibt, sagt er: „Du spinnst.“ Er langweilte sie. Seit 1988 ist sie mit dem Pianisten und Komponisten Gérard Jouannest verheiratet, der viele ihrer Lieder komponiert hat.
Gréco, die sich als „Linke“ bezeichnet, nimmt während der 68er-Unruhen einige Aktivisten bei sich auf. „Mein damaliger Ehemann Michel Piccoli und ich mussten über das edle Hermès-Ledergepäck lächeln, das die Drahtzieher der Revolte bei uns abstellten.“
„Ich habe François Mitterrand immer bewundert, ganz gleich, was er tat. Auch wenn er mit seinen Entscheidungen der Zeit immer etwas hinterherhinkte.“
„Non Monsieur, je n’ai pas vingt ans“
Ende der Achtzigerjahre beginnt ihr Stern in Frankreich zu sinken. Nicht so im Ausland, dort füllt sie nach wie vor die Säle. Letztes Jahr gibt sie ihre Abschiedstournee. Und wieder singt sie: „Parlez-moi d’amour“, „Non Monsieur, je n’ai pas vingt ans“, „Un petit poisson, un petit oiseau“ oder die Chansons ihres längst verstorbenen Freundes Jacques Brel: „Amsterdam“, „J’arrive“, „Ne me quitte pas“.
Am 7. Februar ist sie 90, sie, die wohl letzte Existentialistin in ihrem Dorf, in ihrem Saint-Gérmain-des-Prés. In ihren Memoiren erzählt sie, dass sie in ihren späten Jahren oft in einem Bistrot sitzt: „Dann schaue ich mich um, ich versuche, ein paar Worte aufzuschnappen und stelle mir das Leben dieses oder jenes Gastes vor. Ob sich das Paar da drüben langweilt. Das soll vorkommen.“
*) Mit Informationen aus Juliette Grécos 2012 erschienenen Memoiren „Je suis faites comme ça“ (Flammarion, Paris), deutsch: „Juliette Gréco: So bin ich eben“ btb 2013) sowie mit Material aus „Le Monde“, „Libération“ und „Le Nouvel Observateur“.