Im Jahr 1955 publizierten Max Frisch, Lucius Burckhardt und Markus Kutter das Manifest «Achtung: die Schweiz», dessen Nachhall bis heute nicht verebbt ist. Mit ihrem provozierenden Aufruf zum Bau einer neuen Stadt zettelten sie eine Diskussion über das helvetische Selbstverständnis an. Nicht anders das kürzlich erschienene Büchlein des bekannten Architekturkritikers Benedikt Loderer. «Die Landesverteidigung» ist ein Fanal, das weit über den engeren Themenkreis des Bauens hinaus die heutige Schweiz insgesamt in den Fokus einer streitbaren Debatte rückt.
Auseinandersetzung mit Leitbildern und Werten
Loderer ist Architekt und Publizist, war Chefredaktor der Architektur- und Designzeitschrift «Hochparterre» und erfand für sich die Bezeichnung «Stadtwanderer». Er hat in der Schweiz das publizistische Genre der Architekturkritik recht eigentlich etabliert, und zwar nicht als Insider-Fachdiskurs, sondern als eine auf dem Material des Gebauten basierende Auseinandersetzung mit den herrschenden Leitbildern und Werten. Im Bändchen «Die Landesverteidigung» systematisiert er seine Beobachtungen und Analysen zum grossen Tableau der Schweiz am Anfang des 21. Jahrhunderts.
Viele prangern die fortschreitende Zersiedelung, den ungehemmten Verbrauch von Raum, die Verschandelung der Landschaft und die Verödung der Kernstädte an. Loderer nimmt solche Trends unter die Lupe, ohne ins populäre und folgenlose Wehklagen einzustimmen. Vielmehr geht er das intellektuelle Risiko ein, die Phänomene der manifesten Fehlentwicklungen in eine schlüssige Theorie zu fassen. Beim Vorhaben, den Lauf der Dinge in diesem Land zu erklären, gibt Loderer sich nicht zufrieden mit gängigen Floskeln und zirkulären Pseudo-Erklärungen. Er will wissen, welche Energien hinter den Zerstörungen stecken, welches die Stellschrauben zur Steuerung der Vorgänge sind und von welchen Wünschen das Verhalten der Menschen gelenkt ist.
Der Schweiz auf die Schliche kommen
Beharrlich den Fakten und Indizien auf der Spur, bastelt Loderer seine Begriffsmaschinerie zusammen, um der Schweiz auf die Schliche zu kommen. Was er zusammenbaut, gleicht am Ende der Heureka, der beweglichen Skulptur, die Jean Tinguely 1964 für die Landesausstellung in Lausanne geschaffen hatte und die jetzt in Zürich steht. Die Heureka ist eine gloriose Bastelei, zusammengefügt aus Fundstücken vom Schrotthaufen. Ihr ächzendes Funktionieren ist bei jeder Umdrehung ein kleines Wunder, und so karikiert die Maschinenskulptur die selbstherrliche Betriebsamkeit unserer Gesellschaft auf gleichermassen entlarvende und poetische Art.
Loderers Begriffsmaschine ist genauso ein Gebastel. Auch er verwertet Fundstücke vom Schrotthaufen ausgedienter Vokabeln, denen man die Funktionstüchtigkeit für eine erklärende Theorie kaum zutrauen würde: das Edle, die Tugend, die Andacht, das Soldatische, die Fremden, die Alt- und Neureichen, der Bergler, das Chalet, der Naturgenuss, die Aussicht, der Adel, die Statthalter, die Hörigen, der Bauernstand, das Laster, das Hüsli, die Pfahlbauer, die Zugezogenen, das Eigentum, das Reicherwerden. – Im letzteren ortet Loderer das alles beherrschende Ziel des Landes und seiner Bewohner, aus dem sich der «Schweizerzustand», wie er das im Untertitel des Buchs nennt, erklären lässt.
Der Stadtwanderer sammelt sein sprachliches Material wie Tinguely die Bauteile seiner Skulpturen, er verschraubt und verschweisst sie wie der Künstler, der dem Weggeworfenen durch das Zusammenfügen schillernde, prickelnde Bedeutungen gibt. An der Heureka ist die bewegte Mistgabel als solche erkennbar, auch wenn sie transformiert ist in ein mechanisches Winken, das eine sinnlose Emsigkeit verkörpert. So auch Loderers Begriffs-Fundstücke: Als Überbleibsel repräsentieren sie antiquierte Diskurse, sind aber so listig und kreativ verschraubt und verschweisst, dass sie das Bild heutiger Zustände zur Kenntlichkeit entstellen.
Analytiker und Sprachkünstler
Benedikt Loderer ist in der Tat beides: unerbittlicher Analytiker und sprachschöpferischer Künstler. Sein Text ist von der ersten bis zur letzten Seite komponiert, leitmotivisch durchgearbeitet, an immer wiederkehrenden Zentralmetaphern orientiert. Loderer rhythmisiert die Satzperioden, arbeitet lautmalerisch, baut subtile Anspielungen ein.
Ist das vielleicht etwas viel Kunst für einen politischen Text? Ganz und gar nicht. Nur wenn die Heureka richtig schön rattert und quietscht, wird sie in ihrer Vielschichtigkeit lesbar. Loderer tut nicht zuviel, sondern genau das Notwendige, um seiner aus einfachem Sprachmaterial konstruierten Abhandlung die erforderliche Komplexität zu geben. Seine Sprachkunst erinnert übrigens stark an diejenige Peter Bichsels – und ich würde sie kaum geringer einstufen als die des eminenten Hebel-Preisträgers.
Doch was sagt er denn über die heutige Schweiz, der Loderer? Dies in einer kurzen Rezension wiederzugeben, ist kaum möglich – und vor allem auch gar nicht zu wünschen. Es käme fast auf das gleiche heraus wie das Verraten der Lösung eines Krimis. Das Vergnügen, Loderer beim Zusammenbasteln seiner riskant-brillanten Theorie des «Schweizerzustands» zuzuschauen, sollte keinesfalls mit zuviel Vorinformation getrübt werden.
Benedikt Loderer: Die Landesverteidigung. Eine Beschreibung des Schweizerzustands, Edition Hochparterre, Zürich 2012, 155 S., Fr. 31.90