Die Nationalratswahlen liegen schon acht Monate zurück, die parteipolitischen Tendenzen haben sich diesen Frühling bei den ersten vier kantonalen Parlamentswahlen fortgesetzt. Nun liegt die wissenschaftliche Nachbefragung Selects zu den eidgenössischen Wahlen 2023 vor, welche die Profile und die Wanderungen der Wählenden beleuchtet, die zu den Stimmengewinnen und -verlusten der einzelnen Parteien geführt haben.
Zur Erinnerung: Bei den Nationalratswahlen 2023 fand gewissermassen eine Gegenbewegung zu den Wahlen von 2019 statt, bei denen die Ökoparteien massiv an Stimmen gewonnen hatten (Grüne: rund +6 Prozentpunkte, GLP: +3). Alle anderen Parteien hatten damals an Stimmen verloren, vor allem die SVP (rund -4 Punkte) und die SP (-2 Punkte).
Verschiebungen innerhalb der Blöcke
Bei den Nationalratswahlen 2023 war die grüne Welle abgeflaut und es dominierten die Themen Asyl, Zuwanderung und Kaufkraftverlust. Die beiden Siegerinnen der Wahlen 2023 waren die SVP und die SP, mit Stimmengewinnen von 2,3 bzw. 1,4 Punkten. Die SVP baute damit ihre Position als wählerstärkste Partei aus, auf rund 28 Prozent, und die SP behauptete sich mit rund 18 Prozent klar als zweitstärkste Partei. Der FDP gelang es dagegen erneut nicht, ihre seit Langem anhaltenden Stimmenverluste zu stoppen (auf rund 14%). Die Mitte wiederum, ein Fusionsprodukt von CVP und BDP von 2021, erzielte ein leicht besseres Ergebnis als 2019 die beiden Vorgängerparteien zusammen (gut 14%). Die markanten Verluste der Grünen von 3,4 Punkten (auf knapp 10%) liessen das rotgrüne Lager insgesamt schwächer werden. Die GLP verlor nur wenig an Parteistärke (auf knapp 8%).
Gemäss der kürzlich erschienen Selects-Studie ist das häufigste Verhalten bei Wahlen – neben der Abstinenz – jenes, dass die Wahlberechtigten bei zwei aufeinander folgenden Wahlen zweimal dieselbe Partei wählen («Stammwählende»). Dieses stellt für alle Parteien den grössten Stimmen-Pool dar: 2023 schwankte dieser Wert zwischen 54 Prozent (Grüne) und 88 Prozent (SVP).
Für die Veränderungen der Parteistärken sind auch die Verschiebungen zwischen Nichtwählenden und Wählenden massgebend sowie zwischen den Parteien. Jene, die 2019 nicht an den Wahlen teilgenommen haben («Neu-Mobilisierte»), wählten 2023 überdurchschnittlich stark die FDP und die Mitte. Dagegen wählten die Erstwählenden, die 2019 noch kein Wahlrecht besessen hatten, überdurchschnittlich häufig die SP.
Die Wanderungen zwischen den Parteien fanden hauptsächlich innerhalb der politischen Blöcke statt: zwischen der SVP und der FDP einerseits und vor allem zwischen der SP und den Grünen andererseits. 14 Prozent der FDP-Wählenden von 2019 votierten 2023 für die SVP und vier Prozent der SVP-Wählenden von 2019 stimmten 2023 für die FDP. Wie schon bei früheren Wahlen fand die weitaus stärkste Wanderung zwischen der SP und den Grünen statt: 27 Prozent der Grünen-Wählenden von 2019 stimmten 2023 für die SP, während acht Prozent der SP-Wählenden von 2019 diesmal für die Grünen votierten.
Geschlossene SVP
Die SVP profitierte davon, dass die Themen Zuwanderung und Asyl im Wahlkampf 2023 Konjunktur hatten. Ihren Wahlerfolg verdankte die SVP der optimalen Mobilisierung ihrer eigenen Basis: Fast neunzig Prozent der Wählenden von 2019 wählten wieder SVP. Diese interne Mobilisierungsfähigkeit zeichnet die SVP seit Jahrzehnten aus. Von anderen Parteien vermag die SVP dagegen eher wenige Wählende zu überzeugen. Die SVP wählten 2023 vor allem Neu-Mobilisierte, also solche, die sich an den letzten Wahlen nicht beteiligt hatten, oder – etwas weniger – ehemals FDP-Wählende.
Anders als die SVP vermochte die FDP ihre Wählenden von 2019 weniger stark wieder für sich zu mobilisieren (68%). Wie erwähnt gingen ferner 14 Prozent der FDP-Wählenden von 2019 zur SVP oder neun Prozent zur Mitte. Unter denjenigen, welche 2023 FDP gewählt haben, finden sich neben den Stammwählenden vor allem Neu-Mobilisierte sowie – deutlich weniger – solche, die 2019 SVP gewählt haben, oder die 2023 erstmals wählen konnten.
Überraschen mag, dass die Mitte ihre Wählenden von 2019 (CVP, BDP) in hohem Mass halten konnte (82%). Sie vermochte auch Neu-Mobilisierte sowie FDP- und SP-Wählende für sich zu gewinnen.
Volatile grüne Basis
Die SP profitierte von den Themen der schwindenden Kaufkraft und steigenden Krankenkassenprämien. Zum Wahlerfolg trug bei, dass sie gut mobilisieren konnte: Sie konnte fast drei Viertel ihrer Wählenden von 2019 halten. Dass das Pendel nach der grünen Welle von 2019 wieder in die Richtung «Sozialpolitik» schlug, äusserte sich auch darin, dass die SP 2023, wie oben erwähnt, deutlich weniger Wählende an die Grünen verlor als 2019 und dass sie viele ehemals Grünen-Wählende für sich zu gewinnen vermochte.
Bei den Wahlen 2023 verloren Umwelt und Energiefragen an Mobilisierungskraft, obwohl der Klimawandel weiterhin als grosses Problem angesehen wurde. Die Grünen, die eine volatile Basis haben, konnten 2023 nur etwas mehr als die Hälfte ihrer Wählenden von 2019 wieder für sich gewinnen (2019 waren es gegenüber 2015 80%). Mehr als ein Viertel ihrer Wählenden von 2019 wechselte zur SP (2019 waren es 7%). Diese Stimmenverluste konnten die Grünen nur teilweise mit ehemals Wählenden der SP und, etwas weniger, der GLP kompensieren. Auch die Wahlbasis der GLP ist volatil (Stammwählende: 61%). Die GLP verlor 2023 Stimmen an die Mitte (12%) und die SP (9%), erhielt andererseits aber auch Zulauf von Personen, die 2019 Grüne, SP oder FDP gewählt hatten.
Junge beteiligten sich weniger als 2019
Betreffend Wahlbeteiligung, die leicht gestiegen war (auf rund 47%), stellt die Selects-Studie bekannte Unterschiede und soziale Einflussfaktoren fest: So beteiligten sich auch 2023 Männer häufiger als Frauen (zu 49% bzw. 44%) und die Wahlbeteiligung stieg mit der Höhe der absolvierten Ausbildung, dem Einkommen und dem Alter. Bei Letzterem zeigte die Studie, dass die Beteiligung der 55–64-Jährigen von 46 auf 54 Prozent gestiegen, diejenige der Jungen (18–24-Jährige) im Vergleich zu 2019 hingegen zurückgegangen ist (von 34% auf 29%). Die Jungen haben 2019 vor allem im Zuge der Mobilisierung durch die Klimademonstrationen an der Wahl teilgenommen; ihr Anteil stieg damals von dreissig auf 34 Prozent. Ihr Rückzug 2023 dürfte einen Teil der Stimmenverluste der Grünen erklären.
Auch beim Entscheid für eine Partei wurden 2023 die bekannten Einflussfaktoren festgestellt. So wählten die Männer – wie schon seit Jahrzehnten – häufiger bürgerlich-rechts und die Frauen eher links-grün. Statistisch signifikant waren 2023 die Übervertretung der Männer unter den Wählenden der SVP (30% Männer vs. 25% Frauen) und die Übervertretung der Frauen bei der SP (15% Männer vs. 22% Frauen).
Wie schon bei früheren Wahlen variiert der Wahlentscheid statistisch mit dem Alter: So stieg namentlich bei der SVP und der FDP der Anteil der Wählenden mit zunehmendem Alter. Bei den Grünen und Grünliberalen aber verhielt es sich umgekehrt: Hier sank die Unterstützung mit steigendem Alter der Wählenden markant; die beiden Ökoparteien sprechen vor allem Jüngere an. Die SP schliesslich war 2023 in allen Altersgruppen etwa gleich stark vertreten.
Konfessionelle Prägung schwindet
Dank Fusion der CVP mit der (reformierten) BDP zur «Mitte» im Jahr 2021 ist die ehemalige CVP nun Teil einer Partei, die über das katholische Milieu hinaus strahlt. Gemäss Selects votierten 2023 zwölf Prozent der Reformierten und 23 Prozent der Katholik:innen für die Mitte. 2019 hatten gerade vier Prozent der Reformierten CVP gewählt. Damit fasste gewissermassen ein Projekt der Nachkriegszeit erstmals Fuss, welches Anfang der 1970er Jahre lanciert wurde mit einem programmatischen Öffnungsprozess und der Umbenennung der Katholisch-Konservativen in eine Volkspartei («Christlichdemokratische Volkspartei»).
Einen ähnlichen Prozess hat die SVP bereits zum Abschluss gebracht. Die ehemals reformierte Partei wurde 2023 von 31 Prozent der Reformierten und 29 Prozent der Katholik:innen gewählt. Sie schaffte diese Transformation ab den 1990er Jahren dank ihrem pointiert isolationistischen und nationalkonservativen Kurs, mit dem sie in den katholische Stammlanden und Hochburgen massiv Wählende anzuziehen vermochte. Erwähnenswert, aber nicht überraschend, ist schliesslich, dass die SP und die Grünen überdurchschnittlich stark von Konfessionslosen gewählt werden.
Link zur Selects-Studie
Die Schweizer Wahlstudie (Selects) untersucht seit 1995 unter anderem das Wahlverhalten von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern bei eidgenössischen Wahlen. Selects wird vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) finanziert und wird vom Schweizer Kompetenzzentrum FORS an der Universität Lausanne durchgeführt. Die Daten sind, anders als bei privaten oder kommerziellen Befragungsinstituten, öffentlich und für die Wissenschaft und für Interessierte frei zugänglich.