Plötzlich entdeckt Europa einen fast fünfzig Jahre alten absurden Konflikt zwischen Iran und den Golfstaaten. Es geht um zwölf Quadratkilometer Land in der Nähe der Meerenge Hormus im Persischen Golf. Wird sich hier bald Weltgeschichte abspielen?
Wussten sie, was sie verkünden? Ihre Erklärung beginnt wohlklingend, zukunftweisend und optimistisch, sie verspricht Partnerschaft, Frieden und Wohlstand für die Region und darüber hinaus. Dechiffriert man das Papier, sieht man jedoch genau, wer in dem kommenden grossen Krieg wo stehen wird. Ein Krieg, dessen Unvermeidlichkeit beinahe stündlich deutlicher wird.
Was Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, mit Emiren und Scheichs des Golfkooperationsrates am 16. Oktober in Brüssel unterschrieb, zeigt, wie die EU die Konturen und Grenzen dieses Krieges sieht. Und sie positioniert sich eindeutig.
Zwölf Seiten und 57 Paragraphen hat das Papier. Paragraph 46 besteht aus einem einzigen Satz und der hat vieles in sich: «Wir fordern Iran auf, seine Besetzung der drei Inseln der Vereinigten Arabischen Emirate zu beenden.»
Auf den drei dabei gemeinten, winzigen, kaum besiedelten und selbst mit einem Boot nur schwer erreichbaren Flecken im Persischen Golf könnte sich bald die Weltgeschichte abspielen, vermuten offenbar die Europäer. Angesichts dessen, was dieser Tage aus Tel Aviv und Teheran zu hören ist, scheint diese Einschätzung, diese Befürchtung nicht abwegig, sondern sehr realistisch. Das ist der Hintergrund, warum die Europäer gerade in diesen Tagen einen fast fünfzig Jahre alten absurden Konflikt entdeckt haben, für den sich bisher kaum jemand interessierte – jedenfalls in Europa nicht.
In den Fussstapfen von Saddam Hussein
Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) streiten seit genau 1971 darum, wem diese Miniinseln gehören. Genauer gesagt, seitdem die VAE als Staat das Licht der Welt erblickt hat.
Die Geschichte dieses Streits lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: Die alte Kolonialmacht Grossbritannien zieht ihre Truppen Anfang der 1970er Jahre aus dem Süden des Persischen Golfs zurück. Sieben kleine Emirate schliessen sich zusammen und gründen eine Konföderation, deren Abkürzung VAE dank Öl und Gas inzwischen beinahe jedem geläufig ist. Die umstrittenen Inseln Abu Mussa sowie die grosse und die kleine Tunb waren seit der Antike bis zu ihrer Besetzung durch die Briten im frühen 20. Jahrhundert Teil des iranischen Staates. Nach Abzug der Briten übernahm die iranische Armee diese Inseln. Ausserdem wurde eine Vereinbarung mit Schardscha, einem der sieben Emirate der VAE, geschlossen, die Iran das Recht einräumt, die Inseln zu verwalten und dort Truppen zu stationieren.
Bis zur iranischen Revolution im Jahre 1979 war die Welt damit in Ordnung und die Souveränität Irans über diese Inseln kein Thema, weder für die Scheichs der Emirate noch für den Westen. Spätestens jetzt begreifen alle, dass 1979 ein Wendepunkt der Weltgeschichte war, dass es eine Welt vor und eine völlig andere nach der iranischen Revolution gibt.
Lebenswichtig für die Welt
Ein Jahr nach der Revolution, unmittelbar nach dem Ausbruch des iranisch-irakischen Krieges, behauptete Saddam Hussein, mit seinem Krieg wolle er arabisches Territorium von iranischer Herrschaft säubern – und meinte damit unter anderem diese kleinen Inseln. Diese Sandflecken von knapp 13 Quadratkilometern mit etwa 2’000 Einwohner:innen hatten in Saddams Krieg ebenso eine strategische Bedeutung wie in dem heutigen kommenden Weltkonflikt. Höchstwahrscheinlich werden normale Nachrichtenkonsumenten demnächst viel mehr von diesen Flecken hören und lesen als bis jetzt.
Die Inseln liegen nahe der Strasse von Hormus. Öltanker und andere grosse Schiffe müssen den Wasserweg zwischen Abu Musa und den Tunb-Inseln passieren, weil das Gewässer sonst nirgendwo tief genug ist. Die ölexportierenden Länder am Golf sind auf Hormus angewiesen. Etwa ein Viertel der Weltölproduktion wird von den Häfen in Kuwait, Katar, Bahrain, Irak und den Emiraten durch diese Meerenge transportiert.
Deshalb hat alles, was über diese Inseln dieser Tage gesagt und geschrieben wird, quasi Weltbedeutung.
Alle sind gerüstet für alles
Die Revolutionsgarden sind hier seit Jahren mit ihren Schnellbooten stationiert und immer, wenn sie es für opportun halten, greifen sie Handelsschiffe oder Öltanker an, um irgendeine Forderung durchzusetzen. Auch die US-Streitkräfte zeigen mit ihrer massiven Präsenz, dass sie für einen Ernstfall bestens gerüstet sind. Sie verstärkten in den vergangenen Monaten ihre Stützpunkte in den VAE, in Katar, Bahrain und Saudi-Arabien mit zusätzlichen Kriegsschiffen und Kampfflugzeugen. Doch ob, wann und wie diese Armada zum Einsatz kommt, darüber wird hauptsächlich in Tel Aviv entschieden.
Dass Israel einen Vergeltungsangriff gegen Iran plant, darüber gibt es keinen Zweifel. Fraglich sind nur das Ausmass und die mögliche Reaktion der Islamischen Republik.
Am vergangenen Mittwoch sagte der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant auf dem Luftwaffenstützpunkt Hatzerim im Gespräch mit Piloten und Flugbesatzungen: «Nach unserem Angriff in Iran wird jeder verstehen, was Sie im Vorbereitungs- und Ausbildungsprozess getan haben.» Und er fügte hinzu: «Jeder, der vor einem Jahr davon geträumt hat, uns zu schlagen und anzugreifen, hat einen hohen Preis dafür bezahlt und träumt diesen Traum nicht mehr.»
Und Netanjahu bereitet das politisch Notwendige dafür vor: Zur gleichen Stunde meldete sein Büro, bei seinem Treffen mit US-Aussenminister Blinken habe sich der israelische Ministerpräsident für die US-Unterstützung bedankt und betont: «Unser gemeinsames Vorgehen gegen Iran muss verstärkt weitergehen.»
Es wird kommen, hoffentlich bleibt es klein
Auch die Mächtigen in Teheran rechnen damit, dass der Angriff kommen wird. Nur wissen sie nicht, wann und wie heftig. Am selben Tag, als Blinken bei Netanjahu sass, war fast die gesamte Spitze der Revolutionsgarden in Isfahan bei einer Trauerfeier für Abbas Nilfrushan, einen der höchsten Generäle der Garden im Libanon. Zwei Ansprachen auf dieser Trauerfeier waren bemerkenswert: die des ehemaligen Garde-Kommandanten Ali Jafari und die von Reza Tangsiri, Marinebefehlshaber der Garden. Beide sprachen unverblümt davon, dass der israelische Angriff kommen, aber «sehr beschränkt» sein werde. Genau das sagt und hofft auch Antony Blinken.
Nilfrushan starb am 27. September gemeinsam mit Hassan Nassrallah nach einem gezielten Bombenangriff Israels. Vier Tage nach Nilfrushans Tod in Beirut hatte die Islamische Republik ihren Angriff auf Israel gestartet. Nun wartet sie auf Vergeltung und hofft, dass diese so beschränkt bleibt, dass ihre Macht nicht gefährdet wird. Zufall oder nicht, auf jeden Fall kurios: Seit zwei Tagen kursieren streng geheime Pentagon-Informationen im Internet und geben Aufschluss darüber, wie Israel den iranischen Raketenangriff auf sein Gebiet vergelten will. Noch ist unklar, ob das Leck auf externe Hacker zurückgeht oder die Unterlagen absichtlich von einem Insider veröffentlicht wurden.
Mit freundlicher Genehmigung von IranJournal