Er hiess Omar, wohnte mit Eltern und sechs Geschwistern in einer 2-Zimmer-Wohung im Pariser Stadtviertel Barbès und war so alt wie der eigene Sohn, mit dem er gemeinsam zum Turnen ging. Man hatte ihn für eine Woche in die Sommerferien eingeladen und zuvor kurz seine aus Mali stammende Mutter gefragt, wie es denn um die Essgewohnheiten bestellt sei , ob der 7-Jährige Schinken oder Wurst esse oder nicht.
Skandal wegen Schweinefleisch
So weit man die Mutter verstanden hatte, war das kein Problem und für Omar war es auch keines, schon auf der Autofahrt verzehrte er kommentarlos das erste Schinkensandwich. Und während der Ferientage wurde es zum Rituell, Stücke einer Honigmelone und feine Scheiben geräucherten Schinkens auf einen kleinen Holzspiess zu schieben, diese so beladenen Speise in die aufbewahrte Hälfte einer Melonenschale zu stecken und das Ganze mit dem Aussehen eines Igels zu servieren.
Den Knirpsen machte dies grossen Spass, bis zum Tag, da die 15-jährige Schwester Omars vorbeikam, um kurz darauf mit ihm weiter zu reisen. Plötzlich Zetern und Skandal, man hatte dem kleinen Bruder Schwein zu essen gegeben - Anrufe nach Hause, Unklarheit, Unverständnis und peinliche Momente. Omar durfte nicht mal mehr die Melonenstücke von den Stäbchen essen. Dies war im Sommer vor 13 Jahren und die Reaktion der damals 15-jährigen Koumba für alle überraschend und zu jener Zeit noch eher eine Ausnahme.
Muslime - je jünger desto aktiver
Mittlerweile würde man sich gemüssigt sehen, eher dreimal nachzufragen, ob das mit dem Schinken in Ordnung geht und wohl deutlich überrascht sein von der Reaktion der grossen Schwester.
Denn in der französischen Gesellschaft zeichnen sich offensichtlich immer deutlicher zwei Entwicklungen ab, die je nach Herkunft, Abstammung und kulturellem Umfeld der jungen Generation der Franzosen in diametral entgegengesetzte Richtungen verlaufen. Zum einen schreitet in Frankreich, der sogenannten „ Ältesten Tochter der katholischen Kirche“, wie in den meisten westlichen Gesellschaften die Säkularisierung in grossen Schritten voran. Ende der 60-er Jahre sagten noch 88 Prozent der Franzosen von sich, sie seien Katholiken. 40 Jahre später, 2007, waren es nur noch 50 Prozent, wovon gerade mal 5 Prozent, zudem überwiegend ältere Menschen, noch regelmässig zur Messe gehen.
Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl derer, die sich offen zum Islam bekennen, auf über 2 Millionen Menschen verdoppelt, wovon gut 40 Prozent praktizierende Muslime sind. Und: Je jünger sie sind, desto mehr praktizieren sie ihre Religion!
**
Zu diesem Ergebnis kommt der Soziologe Hugues Lagrange. Der Direktor am Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS) hat in mehrjähriger Arbeit eine Reihe von Studien aus den letzten 10 Jahren über das Praktizieren des Islam in Frankreich gekreuzt: zwei Untersuchungen des Nationalen Demographischen Instituts, eine andere des „ World Values Survey“, eine des Forschungszentrums von Sciences Po in Paris und eine weitere, die das Innenministerium in Auftrag gegeben hatte.
"Le Monde" veröffentlichte Studienergebnisse
Hugues Lagranges Studie, die Anfang nächsten Jahres erscheinen wird und aus der die Tageszeitung „Le Monde“ die wichtigsten Schlussfolgerungen veröffentlicht hat, hat es in sich. Und ihre Ergebnisse, zu denen auch der beste Kenner des Islams in Frankreich, Gilles Kepel, in einem anderen Zusammenhang schon vor einem Jahr gekommen war, haben mehr als einen überrascht. „Sich als Muslim zu deklarieren, ist bei den 18 – 25-jährigen Franzosen, die aus dem Maghreb, der Sahelzone und der Türkei stammen, die Regel,“ schreibt Lagrange. „Sie respektieren zu 90 Prozent die Ernährungsgsvorschriften und halten den Ramadan ein. 30 Prozent der 21- bis 25-Jährigen gehen regelmässig zum Gebet, während es bei den über 40-Jährigen weniger als 20 Prozent sind.
Die Bedeutung, die man einer religiösen Erziehung und der religiösen Trauung beimisst, hat bei den 21- bis 25-Jährigen in den letzten Jahren deutlich zugenommen, besonders wenn sie in Frankreich geboren wurden oder als kleine Kinder nach Frankreich gekommen sind. Der Islamspezialist, Gilles Keppel, der in den letzten Jahren intensiv in den nördlichen Pariser Vororten gearbeitet hat, wo 2007 die Vorstadtrevolten ausgebrochen waren, sagt: „In diesen Vororten ist einer der Gründungsmythen des modernen Frankreichs, wonach die Nation stets in der Lage ist, alle zu integrieren, zu Bruch gegangen. Die Wut und der Islam haben sich überall dort entwickelt, wo die Republik versagt hat."
Dresscode, strikte Moralnormen, Antizionismus
Andere Studien unterstreichen, dass junge Franzosen nord- und schwarzafrikanischer Abstammung ihren Islam zusehends offensiver und demonstrativer leben. Dazu gehören der ausschliessliche Verzehr von Hallal-Produkten, Plädoyers für strenge moralische Vorschriften und das Vertreten von strikten Normen, was die Sitten, das Verhalten der Frauen, die Sexualität, die Heirat nur zwischen Muslimen, die Jungfräulichkeit und den Dresscode bei Mädchen angeht. Nicht zu vergessen: ein kaum mehr weg zu diskutierender Antizionismus, ja Antisemitismus, zu dem man sich ganz offen bekennt. Und 30 Prozent dieser jungen Franzosen empfinden beim Praktizieren des Islam einen Konflikt mit ihrem Leben in einer modernen, westlichen Gesellschaft – so eine Untersuchung, die bereits zehn Jahre alt ist .
Noch bis vor kürzester Zeit waren Frankreichs strenge Republikaner und Laizisten zutiefst davon überzeugt, dass die neuen Generationen von Einwanderern sich im Kontakt mit der französischen Gesellschaft und der Republik, die auf die strenge Trennung zwischen Staat und Kirche pocht, nach und nach vom Islam entfernen würden. Nun müssen sie sich eingestehen, dass exakt das Gegenteil eingetreten ist - ein harter Brocken für das Selbstverständnis der französischen Republik. Denn dadurch wird, ob es gefällt oder nicht, erstmals dezidiert das berühmte republikanische Integrationsmodell Frankreichs, das auf einem reichlich abstrakten Universalismus basiert, in Frage gestellt.
Seitenhieb gegen die etablierte Soziologie
Die ersten dieser Untersuchungen waren bereits 2005 veröffentlicht worden, ohne dass sie wirklich ins breite Bewusstsein getreten wären. Eine dieser Studien hatte damals schon eine Generation von jungen Franzosen nord- und schwarzafrikanischer Abstammung beschrieben, die sich in drei kulturellen Attituden radikal von anderen Franzosen derselben Generation unterscheidet: Homophobie ist unter ihnen mehr als doppelt so stark verbreitet, das Verhalten gegenüber den Mädchen ist grundsätzlich anders, nämlich brutaler, und 40 Prozent von ihnen hatten eine offen antisemitische Einstellung.
Hugues Lagrange, so sagt ein Kollege von ihm, betreibt eine Soziologie der Gesellschaft, so wie sie wirklich ist und nicht so, wie wir gerne hätten, dass sie sein sollte.
Dieser Satz ist ein Seitenhieb auf die immer noch reichlich starke Fraktion der vom Marxismus herkommenden französischen Soziologe, die die Integrationsprobleme der jungen Immigranten ausschliesslich erklären durch die ökonomische und soziale Diskriminierung, unter der sie zu leiden haben. Lagrange und zahlreiche andere Kollege haben in ihren Arbeiten der letzten 10 Jahre jedoch deutlich gemacht, dass die kulturelle Dimension nicht ausgeschlossen werden kann und unzweifelhaft eine tragende Rolle spielt.
Assimilation funktioniert nicht mehr
Akzeptiert man aber dieses Diktum, dann ist auch das seit Jahren immer wieder bemühte Argument vom Tisch, wonach Frankreich schliesslich in der Vergangenheit ganze Generationen von Polen, Italienern, Spaniern und Portugiesen integriert habe, welche anfangs ebenfalls unter Diskriminierungen zu leiden hatten. Allerdings mit der einen wichtigen Differenz: Kulturell gesehen war der Graben zwischen Immigranten und Franzosen wesentlich weniger tief, als dies heute der Fall ist.
Dies so deutlich zu sagen, mag nach wie vor als politisch nicht korrekt gelten. Und doch wäre es gut, wenn sich Frankreich schnellstmöglich dazu durchringen könnte, ein für alle Mal anzuerkennen, dass die Assimilation jetzt schon seit zwei oder drei Jahrzehnten nicht mehr funktioniert und man in einer Gesellschaft lebt, die unumkehrbar eine multiethnische, multikulturelle und multikonfessionelle Gesellschaft geworden ist. Schaut man dieser Entwicklung nicht klar und unvoreingenommen ins Auge, wird es schwer, wenn nicht unmöglich bleiben, die wachsenden, alltäglichen Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen der französischen Bevölkerung abzubauen.