Wieder ist in den Medien von Reformstau in Bundes-Bern zu lesen. Ist unser politischer Betrieb tatsächlich nicht fähig, grundlegende Reformen durchzuführen? 1)
20 Jahre sind seit den ersten zögerlichen Versuchen, unseren Bundesrat und unser Parlament ins 21. Jahrhundert zu führen, verstrichen. Der Wunsch, deren Organisation einer globalisierten Welt in Zeiten des Internets sanft anzupassen, ist erneut kläglich gescheitert. Der Nationalrat will lieber alles beim Alten belassen.
Ein weiteres Mal wird die längst überfällige, sorgfältig geplante Regierungsreform vom Parlament versenkt. „Die Schweiz kann sich nicht selber reformieren, aber sie wird sich auf Druck von außen hin verändern“, sagt ernüchtert François Cherix, führender Kopf beim Zentrum für institutionelle Reformen in Lausanne. Voilà.
Beide Räte fürchten die Macht der Richter
Größter Bremsklotz ist die direkte Demokratie. Alle haben die Kraft, alle anderen zu blockieren, aber niemand ist in der Lage, etwas durchzusetzen. Dieses Urteil ist allerdings nicht neu. Warum das so ist? Kurt Flury, FDP-Nationalrat, diagnostiziert: „Alle haben Angst, dass bei der kleinsten Änderung das Gleichgewicht zwischen den regionalen und kulturellen Minderheiten verloren gehe. Damit verbunden ist die Furcht, Macht einzubüßen.“
Die Furcht vor Machteinbuße diktiert die Bundesagenda. Genau diese klägliche Angst führt zum Reformstau mit implosiven Gefahren. Soweit waren wir doch schon mal, zum Beginn des 19. Jahrhunderts? Braucht es auch diesmal einen Napoleon, um unser Land aus der Erstarrung zu befreien? Sind wir nicht lernfähiger? In dieses Kapitel passt der jüngste Entscheid des Nationalrats: Er will keinen Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit. Beide Räte fürchten die Macht der Richter.
"Das Regierungssystem braucht keine Anpassung"
Unsere mediengewandten Politologen attestieren der Schweiz trotzdem, ihre Institutionen den veränderten Verhältnissen angepasst zu haben. Nur „geschehe dies auf stille Weise“. Da mögen sich viele Schweizerinnen und Schweizer fragen, wie still und leise denn z.B. die schleppende Anpassung unserer Gesetze bezüglich Bankgeheimnis / Steuerhinterziehung / Steuerbetrug in den letzten Jahren abgelaufen wären? Oder wer mag da schon der Meinung sein, die OECD, die USA, die EU hätten die entsprechenden überfälligen Gesetzesrevisionen in der Schweiz auf „stille Weise“ angestoßen?
Konservative Printmedien wissen zudem: Das Regierungssystem braucht keine Anpassung. Obwohl auch ihr nicht entgangen ist, dass sich ganze Generationen von Parlamentariern am Reformvorhaben die Zähne ausgebissen haben, kommt die NZZ zum Schluss: „Wenn sich die Hauptakteure [Bundesräte] augenscheinlich wohl fühlen, liegt der Schluss nahe, dass sich im jetzigen System mit den jetzigen Strukturen durchaus arbeiten lässt.“ 2)
Wer auf den grossen Wurf wartet, wartet vergeblich
Der Gerechtigkeit halber sei erwähnt, dass in den letzten 20 Jahren einige kleine Reform-Fortschritte zu verzeichnen waren. Der Beamtenstatus in der Bundesverwaltung wurde abgeschafft. Auch eine Schuldenbremse wurde vor kurzem eingeführt (die ihre Wirksamkeit in schwierigeren Zeiten noch zu beweisen haben wird). Zudem wurde die Bundeskanzlei gestärkt, um für Krisen besser gewappnet zu sein. Doch wer auf den großen Wurf wartet, wartet vergeblich.
Jetzt melden sich natürlich auch weitere Stimmen, die darüber gar nicht traurig sind. So schreibt etwa ein Journalist im TA, die Meinung der Reformer „künftige Entwicklungen ließen sich durch institutionelles Vorausschauen beeinflussen“, 3) entspringe einer naiven Sehnsucht. Ob bei dieser Weisheit Nichtwissen oder Meinungsjournalismus durchscheint, ist nicht relevant.
"Pragmatische Politmechaniker"
Natürlich geht es darum, bisher ignorierten Entwicklungen der Vergangenheit in unseren Institutionen Rechnung zu tragen. Geradezu umwerfend ist dann des Journalisten Ratschlag: „Wichtiger als institutionelle Reformen sind Bundesräte, die nach vorne schauen.“ Nach vorne schauen? Gerade dazu meint die NZZ mit Blick auf den Bundesrat: „An die Stelle von politischen Überzeugungstätern sind pragmatische Politmechaniker getreten. Zu kurz kommt die fundamentale Auseinandersetzung mit der Zukunft der Schweiz.“ 4) Wie sagte es Katharina Fontana in der NZZ sechs Wochen später? Die Bundesräte fühlen sich ja wohl bei diesem System. Es ist zwar alt, aber gut…
Im Übrigen ist beim Ruf nach Reformen auch nicht ein übertriebener Glaube an die Steuerbarkeit der Gesellschaft Triebkraft. Das wäre tatsächlich etwas blauäugig. Doch was drängt, und worauf viele Bürgerinnen und Bürger nicht warten möchten, ist das Erfordernis, Globalisierung, Internet, Big Data, internationales Rechtsempfinden einerseits und unsere Volksrechte aus den letzten beiden Jahrhunderten andererseits, in Einklang zu bringen.
"Kirchturmpolitik"
Wenn jetzt gewisse Kreise einen spürbar werdenden „Zentralismus“ als schleichende Gefährdung der Freiheit 5) betrachten,ist das ihr gutes Recht. Unsere föderalistische Organisation hat zweifellos Vorteile. Dass dieser Föderalismus in vielen Fällen nicht mehr zeitgemäß ist, darf nicht übersehen werden. „Kantönligeist und Kirchturmpolitik“, diese volkstümlichen Qualifikationen, sind selbstredend. Eine gute politische Einrichtung bleibt nicht gut, wenn sie erstarrt, sondern sie lebt, wenn sie ihre Vorteile den veränderten Bedingungen unserer Gesellschaft, der Zeit und der Welt anpasst.
Dazu zwei aktuelle Beispiele. Kantönligeist: Der Kanton Obwalden hat mit starken Steuersenkungen eine „Offensiv-Strategie“ eingeschlagen. Was immer darunter zu verstehen sei. Nun haben auch Wirtschaftskriminelle das entdeckt. „Die Zahl der Delikte im Umfeld von Briefkastenfirmen steigt im Kleinkanton markant.“ 6)
Wovor fürchten sich die Ständeräte?
Kommunale Kirchturmpolitik: Nach wie vor sind Gemeindefusionen unpopulär, vor allem bei den betroffenen Exekutiven. Aus lauter Überforderung beginnen immer mehr Gemeinden, eigene Aufgaben in Zweckverbände auszulagern. Doch: Deren Leistungen sind oft zu teuer. Zudem werden sie kaum demokratisch kontrolliert. 7) Die viel gelobte Gemeindeautonomie erodiert still und leise. Kantonale, bauernschlaue Offensiv-Strategien um ausländische Steuerflüchtlinge dienen nicht dem Wohl der Schweiz.
Aktuellster Beweis des politischen Beharrungsvermögens lieferte Ende November 2012 der Ständerat. Er verweigerte Transparenz gegenüber der Bevölkerung, diese soll im Dunkeln gelassen werden bezüglich Abstimmungsverhalten der Damen und Herren im Stöckli. Das elektronische Abstimmungssystem wurde erneut abgelehnt. Dieses Verhalten einer Mehrheit in der „Dunkelkammer“ ist unzeitgemäß. Es beleidigt die unterlegene Minderheit. Die in den Medien verbreitete Begründung für diesen Entscheid: Tradition kommt vor Transparenz. Karin Keller-Sutter doppelte gar nach: Schon bei der Tagsatzung sei per Hand abgestimmt worden. Solche Aussagen sind der Schweizer Demokratie unwürdig. Wovor fürchten sich die Standesvertreter?
Vorausschauen gehört zur Aufgabe erfolgreicher Führungskräfte. Das Antizipieren möglicher Probleme zeichnet sie aus. Die Pflege der Mythen und die Furcht vor Machteinbusse in Parlamenten und Exekutiven sind keine tauglichen Ratgeber im 21. Jahrhundert.
1) TA vom 11.9.2012, Seite 4, Beitrag von Stefan Schürer.
2) NZZ vom 26.11.2012: „Alt, aber gut“, von Katharina Fontana.
3) TA vom 12.9.2012, Seite 9, Beitrag von Patrick Feuz.
4) NZZ vom 6.10.2012: „Die sieben Technokraten“, von Markus Häfliger.
5) NZZ vom 8.9.2012: „Schleichende Gefährdungen der Freiheit“, von
Gerhard Schwarz.
6) NZZ am Sonntag vom 15. April 2012: Wirtschaftskriminelle im Steuerparadies“.
7) avenir aktuell 03/2012: „Wer bestellt, soll auch zahlen“.