Das Wichtigste sei, dass man über die Ukraine spreche, «dass niemand die Ukraine vergisst», hat der im Mai neu gewählte ukrainische Präsident Wolodimir Selenski vor kurzem in New York vor der Presse erklärt. Sein Anliegen war insofern berechtigt, als die Ukraine von weiten Teilen der Weltöffentlichkeit lange Zeit nur am Rande wahrgenommen wurde. Schon der Name deutet auf eine marginale Position hin, denn Ukraine heisst auf Russisch nichts anderes als «Am Rande». Jahrhundertelang gehört das Land zunächst zum Königreich Polen-Litauen, dann wurde es Bestandteil des Zarenreiches und dessen Nachfolgestaat, der Sowjetunion.
Stürmische Ablösungen von Russland
Als formell unabhängig anerkannter Staat existiert die Ukraine erst seit der Auflösung des Sowjetreiches im Jahre 1991. Seither hat das flächenmässig grösste Land Europas zwar schon verschiedentlich Schlagzeilen gemacht – namentlich durch die sogenannte orange Revolution Ende 2004 und zehn Jahre später durch den Kiewer Maidan-Aufstand gegen das korrupte, an Russland angelehnte Janukuowitsch-Regime. Dessen Zusammenbruch wiederum animierte die Putin-Regierung zur Annexion (oder zum Anschluss, wie das die Kreml-Sprachregelung nennt) der Halbinsel Krim und zur militärischen Einmischung in die Ostukraine.
Im Frühjahr erregte zwar der überragende Wahlsieg des ausserhalb des Landes unbekannten Aussenseiters Wolodimir Selenski bei der Präsidentschaftswahl auch international erhebliches Aufsehen. Der Erfolg des populären TV-Entertainers jüdischer Herkunft widerlegte nicht zuletzt die von der Kreml-Propaganda (und den Putin-Weisswäschern im Westen) gestreute Behauptung, in der Ukraine seien rechtsextreme und faschistische Kräfte dabei, immer mehr Macht und Einfluss zu gewinnen.
Dennoch hat der neue ukrainische Präsident Selenski bei seiner Visite in New York nicht ohne Grund an die Öffentlichkeit appelliert, sein junges Land nicht wieder in Vergessenheit geraten zulassen, denn der seit mehr als fünf Jahren mottende Krieg im Donbass (mit bisher über 13000 Toten) und die drückenden wirtschaftlichen Probleme der Ukraine sind erfahrungsgemäss kaum geeignet, die Ukraine dauerhaft im Scheinwerferlicht kurzatmiger Medien zu festzuhalten.
Windmacher Trump
Inzwischen jedoch spricht sehr vieles dafür, dass Selenski sich keine Sorgen über mangelnde Aufmerksamkeit für die Ukraine mehr machen muss. Dafür sorgt kein geringerer Windmacher als Donald Trump. Seit durch einen mutigen Whistleblower in den US-Geheimdiensten publik geworden ist, dass der Herr im Weissen Haus bei einem Telefongespräch mit Selenski diesen möglicherweise gesetzeswidrig dazu einzuspannen (oder zu erpressen) versuchte, belastendes Material (russisch: Kompromat) gegen seinen eventuellen Wahlkampf-Rivalen Joe Biden aufzustöbern, dürften der Ukraine auf viele Monate hinaus fette Schlagzeilen in der Weltpresse gesichert sein. Selenski machte übrigens bei dem später veröffentlichten Gespräch mit Trump eine ziemlich servile Figur und scheute sich peinlicherweise nicht, über die angeblich wenig hilfreichen Europäer herzuziehen.
Bekanntlich haben die Demokraten im amerikanischen Kongress aufgrund dieser undurchsichtigen ukrainischen Telefongeschichte erste Schritte für ein Impeachment-Verfahren gegen Trump eingeleitet. Kein Mensch kann heute zwar voraussagen, wie dieser Prozess sich entwickeln wird – und ob am Ende die oppositionellen Demokraten im Kongress oder Trump im Weissen Haus als Sieger dastehen werden. Höchst unklar ist vorläufig auch, ob der sich abzeichnende permanente Medien-Rummel um die Verbindungen (oder Machenschaften) prominenter Amerikaner mit ukrainischen Politikern und Geschäftemachern für den Ruf der Ukraine eher nützlich oder schädlich sein wird.
Bewegungen im Donbass?
Nicht ganz so schlagzeilenträchtig wie Trumps verdächtige ukrainische Umtriebe sind jüngste Signale von einer andern Front in der Ukraine: Es geht um den festgefahrenen Krieg im Donbass. Präsident Selenski hat am Dienstag vor der Presse in Kiew mitgeteilt, dass seine Regierung sich bei Kontakten mit russischen Unterhändlern und Repräsentanten der OSZE in Minsk darauf verständigt hätte, eine Lösung des Donbass-Konflikts mit Hilfe der sogenannten Steinmeier-Formel in die Wege zu leiten.
Diese Formel geht auf den früheren Aussenminister und heutigen deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zurück. Sie sieht vor, dass in den beiden von Separatisten beherrschten ukrainischen Provinzen Lugansk und Donezk Wahlen unter Aufsicht der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) durchgeführt werden sollen. Selenski betonte dabei, dass solche Wahlen nur stattfinden könnten, wenn alle bewaffneten Gruppen sich aus diesen Gebieten zurückgezogen hätten und die Ukraine ihre östliche Grenze wieder vollständig kontrollieren könne. Die Ukraine wiederum werde ein Gesetz ausarbeiten, das den bisher separatistisch kontrollierten Provinzen im Donbass eine teilweise Autonomie zuerkennen würde.
Ob Russland solche Rückzugsbedingungen als Voraussetzung für Wahlen in den umkämpften Donbass-Territorien akzeptierten wird, ist noch völlig offen. Offenbar sind diese Bedingungen in der ursprünglichen Steinmeier-Formel nicht explizit enthalten. Dennoch sind vorsichtige Hoffnungen aufgekommen, dass die jüngsten Kontakte über dieser Formel den Weg ebnen könnten zu einer Neuauflage von Friedensverhandlungen zum Donbass-Konflikt nach dem sogenannten Normandie-Format. An verschiedenen Treffen dieser Art waren die Regierungschefs der Ukraine, Russlands, Deutschlands und Frankreichs beteiligt. Ein Ergebnis dieser Gespräche waren die Minsker Waffenstillstandsabkommen, deren Vereinbarungen indessen nie umfassend umgesetzt worden sind.
Vorbehalte gegen Selenski
Selenskis Ankündigung über eine Aktivierung der Steinmeier-Formel zur Entschärfung des Krieges im Donbass stösst in der Ukraine von verschiedenen Seiten auf starkes Misstrauen und laute Kritik. Es wird befürchtet, der junge Präsident lassen sich am Ende von Moskau über den Tisch ziehen, um so dem Publikum fragwürdige Fortschritte im ostukrainischen Konflikt präsentieren zu können. Das Misstrauen wird teilweise auch im Ausland durch das völlig undurchsichtige Verhältnis Selenskis zu dem übel beleumdeten Oligarchen Ihor Kolomoiski genährt. Dieser ist nach der Präsidentschaftswahl auffallend schnell wieder in die Ukraine zurückgekehrt, nachdem er sich einige Jahre zuvor wegen offenbar betrügerischer Machenschaften um die von ihm einst kontrollierte Privatbank in die Schweiz und dann nach Israel abgesetzt hatte.
An brisanten Stoffen, die der Ukraine mindestens für die nähere Zukunft einen Platz in den vorderen Ränge der medialen Aufmerksamkeit sichern werden, wird es also nicht fehlen.