Die Kardinalfrage, wie der Iran reagiert, ist längst beantwortet – auch für diejenigen, die nach einem israelischen Angriff auf einen Regime-Sturz warten. Denn alles und jedes hat in der Islamischen Republik eine religiöse Begründung.
Republikgründer Khomeini erklärte, der Machterhalt sei sogar wichtiger als das Leben des Mahdi, des schiitischen Messias, jenes Retters, auf dessen Erscheinen die Schiiten seit mehr als tausend Jahren warten. Und das ist ein unverrückbares Prinzip.
«Krieg ist ein Segen Gottes»: Dieser makabere Satz von Ayatollah Khomeini, dem Gründer der Islamischen Republik Iran, ist viel mehr als reine Propaganda. Er ist auch mehr als das Versprechen von Glück oder Gnade, von Heil oder dem ewigen Paradies im Jenseits. Acht Jahre lang wiederholte Khomeini diesen Satz fast täglich – so lange dauerte der Krieg mit dem Irak – und jedes Mal erläuterte er auch, warum alle Iraner diesen «Segen» wahrnehmen, achten und befolgen müssen: weil der Schutz des Systems der höchste Gottesimperativ ist.
Ungeheure Häresie
Oft hat er dabei sogar einzeln die göttlichen Pflichten aufgeführt, die demgegenüber zu vernachlässigen wären. Das tägliche Gebet, die Pilgerfahrt nach Mekka, das Fasten im Ramadan und sonstige Gottesgebote, all das sei zweitrangig, wenn die Existenz des Systems in Frage stehe. Und Khomeini ging noch weiter: Sogar das Leben des verborgenen zwölften Imam sei irrelevant, wenn es um den Bestand, um das Sein der Islamischen Republik gehe.
In den Ohren eines tiefgläubigen Schiiten klingt dieser Satz absonderlich, ungeheuerlich, ja, wie pure Häresie. Das Leben des verborgenen 12. Imam, also des Messias, kann, muss geopfert werden, um die Herrschaft der Mullahs zu sichern?
Die Israelis kennen Khomeinis neue Religion
Ein monströser Gedanke, der jedoch als unverrückbares, ewiges Prinzip weiterhin gilt: Der Schiismus ist am Ziel, der Messias braucht nicht zu kommen.
Mit diesem Satz verkündete Khomeini die Geburt einer eigenen, neuen Religion, nicht mehr und nicht weniger. Und er setzte damit die Spaltungsspirale fort, die den Schiismus seit seinem Bestehen kennzeichnet. Nicht zufällig liess sich Khomeini Imam nennen, ein Titel, der bis dahin nur für die zwölf Imame der Schiiten reserviert war. Auf das Erscheinen des zwölften warten sie seit dem Jahr 941.
Khomeini glaubte, damit den Streit innerhalb der schiitischen Gelehrten beendet zu haben, die sich seit Jahrhunderten fragten: Kann man, darf man als schiitischer Geistlicher einen islamischen Staat ins Leben rufen? Obliegt es nicht dem Mahdi, dem Messias, auf dessen Erscheinen alle zu warten haben? Dieser Disput muss vielen Israelis bekannt sein. Darin erkennen sie ihren eigenen Streit mit den Ultraorthodoxen, von denen manche sich nicht scheuten, nach Teheran zu reisen und sich mit dem notorischen Antisemiten Mahmud Ahmadinejad abbilden zu lassen. Das ist eine der vielen Merkwürdigkeiten unserer Tage.
Khomeinis Ansicht gilt der überwiegenden Mehrheit der schiitischen Gelehrten als Anmassung. Doch mit seiner Machtübernahme schlug er gewaltsam eine vollkommen neue Seite im schiitischen Glauben auf und setzte dem Warten auf den rettenden Messias ein Ende. Er erklärte sich zum eigentlichen Retter und entmachtete all jene Grossayatollahs, die es gewagt hatten, sich gegen seine Anmassung zu stellen. Den «britischen Schiismus» machte er zum geflügelten Schimpfwort für seine Gegner innerhalb der schiitischen Gelehrsamkeit. Und wenn das Schimpfen und Schmähen nicht ausreichte, folgten Verhaftung, Hausarrest, Ächtung und Isolierung oder sogar Tötung.
Unmittelbar nach seiner Machtübernahme rief er «das Sondergericht für Geistlichkeit» ins Leben. Die Weihe und Würde eines Geistlichen sei zu erhaben, als dass er sich im Falle des Falles vor einem irdischen Gericht verantworten müsste. Ausserdem können die Geistlichen «sonderbare» Vergehen begehen, die oft mit Disputen der Gelehrten zu tun haben. Also nur Mullahs dürfen über Mullahs zu Gericht sitzen.
Der neueste Fall: Am vergangenen Freitag ordnete dieses Gericht die Verhaftung von Ayatollah Mohagheg Yasdi an. Sein Vergehen liegt offenbar sechs Monate zurück. Damals richtete er sein Wort bei einer Predigt an Ali Khamenei und sagte: «An dem Tag , an dem du deine vier Kinder nach Gaza schicken solltest, werde auch ich mich zum Kampf aufmachen und sogar bis zum Weissen Haus gehen.» Weil diese spektakuläre Rede von einst heute aus dem aktuellen Anlass in den sozialen Netzwerken viral geht, muss er heute ins Gefängnis gehen.
Aktueller denn je
Heute mag dieser theologische Disput der Mullahs einem normalen Zeitungsleser im Westen abstrakt, irrwitzig und absurd vorkommen. Doch genau heute ist er viel aktueller und konkreter, als man denkt. Von diesem Streit hängt das Schicksal des grossen aktuellen Konflikts ab, der derzeit alle bewegt, Iraner und Israelis ebenso wie Politiker in der ganzen Welt von Brüssel bis Washington, vom Nahen bis zum Fernen Osten.
Der Disput beantwortet nämlich die Kardinalfrage des Tages: Wie weit würden die Mullahs in der bevorstehenden militärischen Auseinandersetzung mit Israel gehen? Die klare Antwort auf diese Frage lautet: so weit, dass ihre Macht nicht gefährdet ist.
Man werde «die Augen zudrücken»
Und dafür sind sie bereit, vieles hinzunehmen; schliesslich ist die Machterhaltung Gottesgebot.
Kaum war der iranische Aussenminister aus Riad abgereist, meldete die offiziöse saudische Zeitung Asharq Al Awsat am vergangenen Freitag: «Iran hat den Israelis indirekt mitgeteilt, man werde bei einem beschränkten israelischen Angriff die Augen zudrücken und diesen nicht beantworten.» Wo die Grenzen dieser Einschränkung lägen, wo die rote Linie genau verläuft, darüber habe der Aussenminister geschwiegen.
Er muss ja schweigen. Niemand weiss, was Israel anvisieren will. Was auch kommen mag: Israels Verteidigungsminister Galant verspricht, es werde tödlich, genau und überraschend sein. Die Herrscher in Teheran würden nicht merken, wie es geschieht, sie würden aber das Ergebnis sehen. Was auch immer das heissen mag.
Diese nebulöse Äusserung kam kurz nachdem Netanjahu und Jo Biden am Freitag telefonisch über die kommenden Angriffsziele gesprochen hatten. Fast gleichzeitig kündigte das Weisse Haus in Washington Sanktionen gegen Unternehmen an, die im iranischen Erdölhandel tätig sind, sowie gegen mehrere Tanker, die iranisches Erdöl transportieren.
Auch die EU verhängte am Montag neue Sanktionen gegen Iran. Damit will man auch auf die iranische Lieferung von ballistischen Raketen an Russland reagieren. Werden diese Sanktionsankündigungen Netanjahu besänftigen? Wird er Teherans rote Linie einhalten? Das kann er nur selbst beantworten. Doch wo liegen die roten Linien der Islamischen Republik? Das kann niemand genau wissen. Die Zionisten wollen dieses heilige Gottessystem, dessen Erhaltung oberstes Ziel aller Gläubigen sei, in einen Krieg ziehen. Doch in diese Falle tappe man nicht, kommentierte am Samstag die Tageszeitung Keyhan, Khameneis Hauspostille.
Wo die Schmerzgrenze liegt, kann niemand wissen. Für den Machterhalt sind die Mächtigen bereit, vieles zu ertragen; jedenfalls viel mehr, als manche iranische Oppositionelle phantasieren können. Kronprinz Reza Pahlavi, der sich in der Weltpresse als wichtigste oppositionelle Stimme präsentiert, versichert den Iranern und der übrigen Welt, nach einem Angriff entstünde in Iran kein Machtvakuum. Seine Gegner polemisieren, das sei eine Einladung an Netanjahu, richtig zuzuschlagen, bis das Regime gestürzt sei.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal