Die Staatsgalerie Stuttgart wartet mit einer breiten Dokumentation über das Werk von Marcel Duchamp (1887–1968) auf. Sie basiert auf eigenen Beständen und auf dem Nachlass des Schweizer Künstlers Serge Stauffer. Dazu kommen bedeutende Leihgaben.
„Duchamp. 100 Fragen. 100 Antworten“ ist eine auf- und anregende Schau, doch die Leitfigur der Moderne macht es den Besuchern nicht einfach: „Kein Zugang zu nichts“ kritzelte denn auch ein Besucher im letzten Raum der Ausstellung auf eine Karte. In der ganzen Ausstellung liegen 100 Karten auf. Die Vorderseite stellt eine Frage zu Duchamps Werk, die Rückseite gibt die Antwort. Auf der 100. Karte steht: „Ende. Wer hat Fragen?“ – und: „Notieren Sie diese im nächsten Raum auf Ihre eigene Postkarte“. Das veranlasste einen Besucher zur eben erwähnten Bemerkung. War er frustriert? Fühlte er sich ausgeschlossen? Fragte er sich, was denn all das soll – die Zettelkästen, die rätselhaften Objekte, das in Vitrinen ausgelegte Material?
Polarisierendes Werk
Duchamps Werk polarisiert noch heute, wie auch zu seinen Lebzeiten. Schon in den 1910er-Jahren gab’s Skandale. Noch 1964 veranlasste es Joseph Beuys zur Aktion „Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet“. Doch der Angriff auf die Bedeutung eines der „Gründerväter“ der Moderne verpuffte, denn trotz gegenteiligen Gerüchten zog sich Duchamp nie ins Schweigen zurück, und trotz all seiner teils widersprüchlichen Absagen an den Kunstbetrieb blieb er der künstlerischen Arbeit bis ans Lebensende treu, wenn auch oft auf rätselhaften Nebenwegen. Im Verborgenen entstand in seinem letzten Lebensabschnitt das – nach dem enigmatischen Grossen Glas „La Mariée mise à nu par ses célibataires, même“ (1919–1923) – zweite Hauptwerk, die Installation „Étant donnés: 1° la chute d’eau 2° le gaz d’eclairage“ (Philadelphia Museum of Art).
Tatsächlich ist der Gang durch die Ausstellung ein herausforderndes Unterfangen. Gefragt sind Zeit und Aufmerksamkeit. Nicht nur gilt es, viel zu lesen; wer sich nicht bereits ein wenig auskennt in diesem Werk, muss ein rechtes Stück Denkarbeit leisten, um hinter die Schliche zu kommen, mit denen Duchamp seine neue Vorstellung über das Wesen der Kunst formulierte.
Serge Stauffers Fragen an Duchamp
Einfach war das auch nicht für den Schweizer Fotografen, Künstler, Kunsttheoretiker und Mitbegründer der F+F-Schule in Zürich Serge Stauffer (1929-1989). André Thomkins machte ihn in den 1950er-Jahren mit Duchamps Werk bekannt. Stauffer vertiefte sich immer intensiver in die Materie, wurde zum eigentlichen Duchamp-Spezialisten – und schickte 1960 dem Künstler 100 Fragen zu diesem Werk, die Duchamp knapp beantwortete. Teile des Nachlasses Stauffers, darunter auch eine ausführliche Zettelkasten-Dokumentation von Duchamps Werk, befinden sich in der Staatsgalerie Stuttgart, die selber bereits über sehr viele Werke des Erneuerers der Kunst verfügt.
Die Aufarbeitung dieser Bestände legte den Grund zur Ausstellung. Sie erschliesst das Material so, dass die Besucher-Bemerkung „Kein Zugang zu nichts“ natürlich verständlich bleibt – man soll schliesslich niemanden zu Duchamp zwingen – , dass sie aber keinesfalls allgemeine Geltung haben kann. Der Kuratorin Susanna M.I. Kaufmann und ihrem Team ist eine Präsentation gelungen, die – die erforderliche Zeitinvestition vorausgesetzt – sehr wohl Zugänge vielleicht nicht zu allen, aber doch zu sehr vielen Aspekten erschliesst. Das geschieht mit einer klugen Ausstellungsdramaturgie, mit einem durchdachten Wechsel der Medien – Plakate, Objekte, Readymades, Fotografien, Malerei, Zeichnung, Musik, Text, Video (Harald Szeemann erläutert magistral das „Grosse Glas“) – und eben mit den vom Konzeptkünstler Joseph Kosuth gestalteten 100 Frage-Karten, die in einer Art Parcours durch die Schau führen.
Die bärtige Mona Lisa
Ein Beispiel sind die rätselhaften Buchstaben L.H.O.O.Q, die Duchamp 1919 unter die mit Schnurrbart und Spitzbart versehene Reproduktion der Mona Lisa kritzelte: „Hat Mona Lisa einen heissen Hintern?“ steht auf der Vorderseite der 85. Karte. Auf der Rückseite ist zu lesen: „Duchamp liebt das Verwirrspiel der Identitäten und erprobt dieses auch in dem bekanntesten Frauenportrait der Kunstgeschichte. So verpasst er Leonardo da Vincis Mona Lisa von 1503 kurzerhand einen Bart und stellt damit ihre über Jahrhunderte bestehende Frauenrolle infrage. Der zugehörige Bildtitel zeigt Duchamps typischen Wortwitz: L.H.O.O.Q klingt französisch ausgesprochen wie Elle a chaud au cu – Sie hat einen heissen Hintern.“
Viele Werke Duchamps existieren nur mehr als Replik – zum Beispiel das „Grosse Glas“ mit dem deutschen Titel „Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblösst, sogar“. Das rätselhafte Schlüsselwerk ging in Brüche. Die Replik im Besitz des Moderna Museet Stockholm fand als Leihgabe den Weg nach Stuttgart. Die in Stuttgart gezeigte Replik des Fahrrad-Rades stammt vom Hessischen Landesmuseum Darmstadt. „Fontaine“, das berühmteste Readymade Duchamps, das mit „R.Mutt 1917“ signierte Urinal, fehlt in Stuttgart. Damit, mit einem Skandal, liess Duchamp den Kunstbegriff implodieren. Er gab damit einen wesentlichen und nachhaltigen Anstoss zum Paradigmenwechsel in der Kunst und avancierte so zum vielfachen Grossvater der Konzeptkunst. Warum fehlt das Objekt? Die 29. Frage-Karte lautet „Wo ist eigentlich Fountain?“ Auf der Rückseite ist die Begründung zu lesen: „Wir zeigen keine Replik des verschollenen Urinals, weil es keinen konkreten Bezug zu unserer Sammlung gibt, von der für diese Ausstellung ausgegangen wurde.“
„Rrose Sélavy“
Einen konkreten Bezug gibt es allerdings zum Fenster-Objekt „La Bagarre d’Austerlitz“ (in Stauffers Übersetzung „Die Schlägerei von Austerlitz“), das sich, als Original von 1921, seit 1980 in Stuttgart befindet: Ein hintergründiges Objekt, denn Duchamp spielt nicht nur mit dem Fenster als Bild-Metapher, sondern treibt auch virtuose Sprachspiele mit „Bagarre“ und „La Gare“, mit „Schlägerei“ und mit dem Namen der Pariser Gare d’Austerlitz als nationalistische Heroisierung eines napoleonischen Schlachtgetümmels.
Er versah das Objekt zudem mit zwei Signaturen – „Marcel Duchamp“ auf der einen Seite, „Rrose Sélavy/Paris 1921“ auf der anderen. Eine merkwürdige Signatur, die, französisch gelesen, wie „Eros – c‘est la vie“ klingt. Aus dem gleichen Jahr stammt eine Fotografie von Man Ray, die den begnadeten Selbstdarsteller Duchamp als androgynes Wesen zeigt und betitelt ist mit „Rrose Sélavy“. Ein Bekenntnis zum Eros als Urkraft auch der Kunst? Auch, und das hat Gültigkeit fürs ganze Schaffen Duchamps, aber darüber hinaus nahm Duchamp auch vorweg, was Jahrzehnte später nicht nur die Künstlerinnen und Künstler umtrieb – die Frage nach der (geschlechtlichen) Identität des Individuums.
„Kein Zugang zu nichts“? Vielleicht trifft der Spruch des Ausstellungsbesuchers unbeabsichtigt doch ins Schwarze oder mindestens ins Graue: Duchamp eröffnet in seinem Werk, und das macht den Besuch der Stuttgarter Ausstellung zum spannenden Abenteuer des Denkens, immer wieder neu Zugänge, um sie gleich wieder zu verschliessen oder um den Betrachter umzuleiten und ihm neue Zugänge zu ermöglichen – und ebenfalls gleich wiederum zu verschliessen. Sein ironisches, auch selbstironisches Spiel lässt sich mit all seinen Widersprüchlichkeiten und Unwägbarkeiten lesen als Metapher einer Künstlerexistenz. Oder gar als eigensinnige Lebensmetapher?
Staatsgalerie Stuttgart: Marcel Duchamp – 100 Fragen. 100 Antworten, bis 10. März 2019, Katalog 35 Euro