Appell der Literaturnobelpreisträgerinnen Swetlana Alexijewitsch, Elfriede Jelinek, Herta Müller und Olga Tokarczuk
An den Präsidenten des Europäischen Rates
Charles Michel
An den Präsidenten des Europäischen Parlaments
David Sassoli
An die Mitglieder des Europäischen Parlaments
Die polnische Regierung hat im Grenzstreifen zwischen Polen und Belarus den Ausnahmezustand verhängt, auf Grund dessen sie den Ärzten und Sanitätern die Hilfeleistung für die Kranken und Sterbenden in der Grenzzone verweigert und den Medien den Zugang zur sich dort abspielenden Tragödie versperrt. Jedoch geben schon die inkompletten, bruchstückhaften Informationen einen Einblick in das gigantische Ausmass der humanitären Katastrophe, die sich an der Grenze der Europäischen Union ereignet. Wir wissen, dass dort Menschen der erbarmungslosen Prozedur von Push-Backs unterzogen und dem Hunger, der Erschöpfung und der Unterkühlung in den Sümpfen ausgesetzt werden.
Belarussische, von Lukaschenkos Regime kontrollierte Reisebüros versprechen Verzweifelten, gegen hohe Bezahlung ins Gebiet der EU zu gelangen. Auf diese Weise nach Minsk gelockte Menschen werden mit organisierten Transporten in den Wald an die Grenze gebracht. Von dort treibt man sie mit Gewalt nach Polen, die polnische Grenzwache treibt sie ebenfalls mit Gewalt nach Belarus zurück. In den schlimmsten Fällen endet es tödlich. Manche Verstorbene kennen wir mit Namen, andere sterben namenlos.
Als Bürgerinnen und Einwohnerinnen der EU wenden wir uns an die demokratisch gewählten Vertreter Europas: Lasst uns unseren Blick nicht von der Tragödie abwenden!
Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass Menschen in diesem Hybridkrieg als Geiseln benutzt werden. Diese teuflischen Praktiken werden als Beispiele für die moderne Variante der Grausamkeit in die Geschichte eingehen. In der Geschichte Europas haben wir uns allzu oft Unwissen erlaubt. Wir schlossen unsere Augen. Wir hielten uns die Ohren zu. Wir schwiegen. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben uns deutlich gezeigt, dass es unbequemes und quälendes Wissen gibt. Die meisten Menschen haben es nicht an sich herangelassen, um ihr eigenes Wohlbefinden zu schützen.
Heute wiederholt sich die Situation.
Die Europäische Union ist für uns vor allem eine grenzüberschreitende moralische Gemeinschaft, basierend auf den Regeln zwischenmenschlicher Solidarität. Das gibt uns das Recht, zu einer eindeutigen Stellungnahme aufzurufen. Wir verstehen, dass es nicht einfach ist, mit dem Ansturm der Verzweiflung auf die Grenzen Europas klarzukommen. Jedoch passt das, was wir an diesen Grenzen zulassen, nicht zu unseren fundamentalen europäischen Werten.
Wir appellieren an Sie, diese humanitäre Krise möglichst schnell und effektiv zu lösen, die Beschlüsse der Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten und insbesondere allen den Zugang zum Asylverfahren zu gewähren, die darum bitten und an der östlichen EU-Grenze festgehalten werden.
Wir fordern eine breit angelegte diplomatische Initiative in den Ländern des Nahen Ostens, um dem irreführenden Narrativ des belarussischen Regimes entgegenzuwirken, das sich als Ziel setzt, möglichst viele verzweifelte Flüchtlinge an die polnisch-belarussische Grenze zu holen, um damit die politische Situation in Polen und in der ganzen Europäischen Union zu eskalieren und zu destabilisieren.
Vor allem rufen wir auf, die Hilfsorganisationen, die medizinische und juristische Hilfe leisten könnten, in das Grenzgebiet hineinzulassen.
Wir fordern, dass den akkreditierten Journalisten und Medien der Zugang zum Gebiet des Ausnahmezustandes gewährt wird. Dies ist unerlässlich, um der Öffentlichkeit vollständige und wahrheitsgetreue Informationen zu liefern.
Wir fühlen uns schmerzhaft ratlos – zu wissen bedeutet, sich des Bösen, das sich gerade ereignet, bewusst zu sein. Dem Wissen sollte das Handeln folgen.
Swetlana Alexijewitsch
Elfriede Jelinek
Herta Müller
Olga Tokarczuk
Literaturnobelpreisträgerinnen