Marine Le Pen arbeitet schon seit langem daran, sich und ihre Partei weisszuwaschen. Nun, da ihr «Rassemblement National» in Umfragen vor den Europawahlen bei 30 Prozent liegt, hat offensichtlich sogar auch ein Teil der Elite des Landes definitiv keine Scheu mehr, sich an ihrer Seite zu zeigen.
Seit Marine Le Pen 2011 von ihrem Vater Jean-Marie den Vorsitz der rechtsextremen «Nationalen Front» übernommen und diesen unverbesserlichen Vater danach sogar aus der von ihm gegründeten Partei ausgeschlossen und entfernt hatte, versucht sie ihre Devise in die Tat umzusetzen, eine Devise, die da lautet: Das Image der Partei muss aufpoliert werden!
Die Neonazis und Identitären gilt es so gut wie möglich zu verstecken und jeder Hauch von Antisemitismus, der während der Amtszeit ihres Vaters immer wieder an die Oberfläche gedrungen war, ist absolut zu bannen.
Normalisierung
Über ein Jahrzehnt lang hat sie alles getan, um ihre Partei in diese Richtung so weit wie möglich weisszuwaschen, wobei auch eine Änderung des Parteinamens nicht fehlen durfte.
Aus «Front National» wurde «Rassemblement National» (RN), die blau-weiss-rote Flamme der Faschisten jedoch bleibt im Logo des RN weiter bestehen. Und eines hat Marine Le Pen bei all ihren Bemühungen, ein geschliffenes Bild ihrer Partei herzustellen, dann doch nicht geschafft, nämlich nach zahlreichen Prozessen per Gericht verfügen zu lassen, dass man ihre Partei nicht als «rechtsextrem» einstufen dürfe.
Ansonsten aber haben ihre Bemühungen auf Dauer Erfolg gehabt. Es ist ihr tatsächlich gelungen, dass das «Rassemblement National» aus Sicht der Mehrzahl der Franzosen mittlerweile eine Partei wie alle anderen auch geworden ist.
Nach der letzten grossen, jährlichen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IFOP sehen mittlerweile nur noch 41% der Franzosen in der rechtsextremen Partei eine Gefahr für die Demokratie – vor einem Jahrzehnt waren es noch 70%.
Ein untrügliches Anzeichen dafür, wie bedenklich weit Frankreichs öffentliche Meinung inzwischen sehr weit nach rechts und darüber hinaus gerückt ist.
Wohlerzogen im Parlament
Zu dieser von Marine Le Pen angestrebten «Normalisierung» ihrer Partei hat gewaltig beigetragen, dass das «Rassemblement National» im Juni 2022, trotz des für ihn ungünstigen Mehrheitswahlrechts, 88 Abgeordnete in die französische Nationalversammlung entsenden konnte und damit zur stärksten Oppositionspartei im Parlament wurde. In der Legislaturperiode davor verloren sich gerade mal 7 von ihnen unter den 577 Volksvertretern in der Assemblée Nationale.
Diese 88 Abgeordneten sind seit knapp zwei Jahren von der Parteiführung strengstens dazu angehalten, im Hohen Haus «bella figura» zu machen, keinerlei Skandale zu provozieren – auch wenn das in der jüngsten Vergangenheit nicht immer ganz gelungen ist.
Es wird Wert gelegt auf das äussere Erscheinungsbild. Die Herren sind z. B. dazu aufgefordert, Krawatte und dunklen Anzug zu tragen. Allesamt sollen sie sich im weiten Rund möglichst unauffällig verhalten, absolut seriös und ja nicht als Polterer oder Rüpel auftreten.
Und in den Augen so mancher Franzosen haben diese Abgeordneten tatsächlich an Notorietät gewonnen, zumal es unter ihnen fast ein Dutzend gibt, darunter den stellvertretenden Parlamentspräsidenten, Sébastien Chenu, die absolut druckreif in Mikrophone und vor Kameras sprechen können. Und da das «Rassemblement National» im Parlament seit Juni 2022 nun mal die stärkste Oppositionspartei ist, hört man diese Abgeordneten auch immer öfter im Radio oder sieht sie im Fernsehen. Normalität eben.
Basisarbeit
Diese Abgeordneten haben auch in ihren Wahlkreisen inzwischen ganze Arbeit geleistet, diese Wahlkreise richtiggehend beackert, sind in Dörfern und Kleinstädten allseits präsent, wie die Tageszeitung «Le Monde» jüngst auf einer Doppelseite schrieb – so wie es die Sozialistische Partei unter Mitterrand in den 70er und 80er Jahren praktizierte oder die konservative RPR unter Jacques Chirac.
Die Abgeordneten der extremen Rechten erscheinen in ihren Wahlkreisen beim Weinfest und bei anderen Dorffesten oder bei Veranstaltungen des Lions Club. Sie lassen sich weder den Feuerwehrball noch das Blutwurstessen entgehen, halten sich bei einem Trail im Zielraum auf und verteilen die Medaillen oder auf den Tribünen bei einem Reitwettbewerb, und sind natürlich bei der Zeremonie präsent, wenn ein neuer Kommandant der örtlichen Gendarmerie sein Amt übernimmt. Ja, sie studieren in der Lokalpresse gar die Todesanzeigen in ihrem Wahlkreis, um den Hinterbliebenen ein Beileidsschreiben zukommen zu lassen.
Anders herum scheint es mittlerweile auch ganz normal, dass der Präfekt, der Vertreter des Zentralstaates in den Departements, dem dortigen Abgeordneten der rechtsextremen Partei einen Höflichkeitsbesuch in dessen örtlichem Parteibüro abstattet.
Diskrete Euphorie vor den Europawahlen
Noch rund 50 Tage sind es bis zur Europawahl am 9. Juni und seit Wochen ändert sich fast nichts an den Umfrageergebnissen. Die Liste der extremen Rechten liegt bei mehr oder weniger 30%. Danach folgt ein grosses Loch, bevor die Macron-Partei auftaucht, die bei 16 bis 18% herumkraucht, alle anderen Listen kommen kaum über die 10%-Marke.
Das «Rassemblement National» wird sich, wie schon vor 5 Jahren nach der letzten Europawahl, als die stärkste Partei Frankreichs bezeichnen dürfen, nur dass diesmal der Vorsprung vor den anderen Parteien enorm zugenommen hat. Präsident Macron, der sich 2017 in Europa als der grosse Europäer verkauft hatte, er wird – so viel ist jetzt schon sicher – mit dem Ergebnis seiner Liste bei diesen Europawahlen eine gewaltige Ohrfeige kassieren.
Selbst wenn er sich persönlich noch in die Wahlschlacht stürzt und in den nächsten Tagen eine grosse Europarede angekündigt hat – es wird nicht viel nützen. Macrons Problem: Die Franzosen hören ihm immer weniger zu, nehmen immer weniger wahr und ernst, was er so von sich gibt.
Der Grund: Er und seine Mitstreiter haben den Kommunikationsbogen in den letzten Jahren allzu weit überspannt und scheinen immer noch zu glauben, dass die Franzosen zwischen Worthülsen und billiger, bemühter Symbolik auf der einen und Taten auf der anderen Seite nicht unterscheiden können. Als wüssten sie nicht, was heisse Luft ist, die aus dem Élyséepalast und dem Regierungssitz des Premierministers regelmässig verbreitet wird. Man ist sich sicher, dass bei jeder dieser allzu dick aufgetragenen und inhaltslosen Kommunikationsoffensiven viele Franzosen an die grosse Sängerin Dalida und an ihr Chanson aus den 70er Jahren denken, mit dem Refrain: «Parole, parole, parole – sempre parole».
Jordan Bardella – der neue Star
Marine Le Pen hat dem neuen Jungstar der Partei, Jordan Bardella – schon die letzten fünf Jahre Europaabgeordneter des «Rassemblement National» – die Aufgabe übertragen, die Liste der extremen Rechten für diese Europawahlen am 9. Juni anzuführen.
Und er tut das, ohne selbst viel zu tun, mit grossem Erfolg und kann es sich sogar leisten, Fernsehdebatten mit den Spitzenkandidaten der anderen Parteien fernzubleiben, um seine inhaltliche Inkonsistenz nicht in aller Öffentlichkeit ausbreiten zu müssen. 30 bis 32 Prozent sagt man ihm und seiner Liste nun seit mehreren Monaten voraus, obwohl der junge Mann mit dem Äusseren eines perfekten Schwiegersohns inhaltlich an einem Tag das eine und am nächsten Tag das Gegenteil erzählt. Der erst 29-jährige Bardella scheint darauf zu setzen, dass wir in einer Epoche leben, in der nicht mehr wichtig ist, was einer sagt, sondern ob er es mit Talent und grossem Selbstbewusstsein tut und verkauft. Ein amerikanischer Philosoph in der Reagan-Zeit, Harry Frankfurt, zitiert von der Tageszeitung «Libération», bezeichnete dieses Phänomen damals schon als «Bullshitismus».
Spitzenkandidat Bardella verkörpert dieses Phänomen perfekt.
Er erscheint in seinen Massanzügen, geputzt und gestriegelt, wie ein Musterschüler und redet druckreif wie ein Buch, worüber auch immer.
Und er hat auch noch das Plus einer proletarischen Herkunft. Perfekt für eine Partei, die fast 60% der Stimmen der Arbeiter und der so genannten kleinen Leute auf sich vereint. Er ist Enkel von italienischen Einwanderern der Nachkriegsjahre, ist in einem der nördlichen Pariser Vorstadtghettos aufgewachsen und schon mit 17 Jahren Mitglied des «Front National» geworden.
Diesem aufsteigenden Stern der französischen Rechtsextremen hat Marine Le Pen vor zwei Jahren sogar die Präsidentschaft ihrer Partei überlassen. Frankreichs Rechtsextreme haben mit Jordan Bardella neben Marine Le Pen tatsächlich eine zweite Leitfigur gefunden.
Hoffähig – die Beispiele häufen sich
Da wäre zum Beispiel ein gewisser Henri Proglio, der vor nicht allzu langer Zeit als Chef des mittlerweile erneut verstaatlichten Elektrizitätskonzerns EDF einer der mächtigsten Wirtschaftsbosse des Landes war. Marine Le Pen hat ihn im vergangenen Jahr zum Mittagessen eingeladen und Proglio eilte herbei. Das Treffen fand nicht irgendwo in der Parteizentrale der Rechtsextremen statt, nein, es ging in einem der teuersten Restaurants von Paris, «Chez Lasserre», gegenüber dem Théatre du Rond Point über die Bühne, einen Steinwurf von den Champs-Élysées entfernt. Wer in den höheren Sphären des Pariser Politikspektakels gesehen werden will, geht dorthin zum Essen, also hatte Marine Le Pen diesen Ort gewählt und der ehemalige Topmanager hatte nichts dagegen.
Der Mann ist eigentlich abgehalftert und könnte es sich mit seiner Millionen schweren Pension einfach gut gehen lassen. Warum er mit einer solchen Geste Marine Le Pen zu einem Stück mehr Notorietät verhilft, bleibt in den Sternen. Sie jedenfalls darf sich die Hände reiben, der Coup war gelungen.
Eine Intellektuelle und Spitzenbeamte
Die Nummer 2 auf der Liste der extremen Rechten wird eine Intellektuelle sein. Die Autorin und Essayistin Malika Sorel, einst von Nicolas Sarkozy in den Hohen Rat für Integration berufen und Unterstützerin der unseligen Präsidentschaftskandidatur von François Fillon 2017. Von dort ist sie nun sang- und klanglos zur extremen Rechten übergelaufen.
Die Nummer 3 für die Europawahlen, Fabrice Leggeri, ist eine höchst symbolische Beute aus dem Milieu der französischen Spitzenbeamten. Der heute 56-Jährige war zwischen 2014 und 2022 nichts weniger als der Leiter des europäischen Grenzschutzes Frontex. Am Ende musste er gehen, weil er alle möglichen Augen zugedrückt hatte, wenn Grenzschützer einzelner Länder oder selbst Frontex-Einheiten Asylsuchende an den EU-Aussengrenzen illegal wieder über die Grenze zurückbefördert hatten. Nun hat er sich endgültig entblösst und wird in den nächsten fünf Jahren als rechtsextremer Abgeordneter im EU-Parlament sitzen.
Und auch ein ehemaliger Botschafter Frankreichs, der lange Jahre in Algerien akkreditiert war, berät die rechtsextreme Partei jetzt in aussenpolitischen Fragen und stellt ihr sein gut gefülltes Adressbuch zur Verfügung.
Wildern in der Medienwelt
Dort wäre etwa Jérôme Sainte-Marie zu nennen, ein einst sehr angesehener Meinungsforscher, der zwei Jahrzehnte lang in allen Fernseh- und Radiostudios und in Zeitungsinterviews auftauchte, um die politische Lage oder das Wählerverhalten zu analysieren und zu kommentieren. Seit zwei Jahren fungiert er nun als Berater der Parteispitze des Rassemblement National.
Und da wäre auch Jean-Francois Achili, politischer Journalist und Kommentator bei France Info, einer Station des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der diskret für den RN Parteichef Jordan Bardella gearbeitet hat. Von seinem Sender ist er nun bis auf weiteres freigestellt worden.
Etwas weniger überraschend findet man auf der Liste der Rechtsextremen zur Europawahl schliesslich auch einen in den Medien sehr präsenten Polizeigewerkschafter, der auf einem vorderen Listenplatz erscheint. Nicht erstaunlich, weil seit rund einem Jahrzehnt mehr als 50% der französischen Ordnungskräfte und Soldaten Marine Le Pen wählen.
Klarsfeld und das «Rassemblement National»
Wie weit die Bemühungen um mehr Hoffähigkeit des «Rassemblement National» von Erfolg gekrönt sind, mag eine weitere Episode beschreiben, die schon auf den Herbst 2022 zurückgeht.
Damals hat der RN-Bürgermeister von Perpignan, Louis Alliot, Vizepräsident des «Rassemblement National» und ehemaliger Lebensgefährte von Marine Le Pen, dem Ehepaar Serge und Beate Klarsfeld die Verdienstmedaille der Stadt Perpignan angeboten, und beide haben die Verleihung akzeptiert. Ein Aufschrei ging durch die jüdische Gemeinde Frankreichs, doch Serge Klarsfeld rechtfertigte sein Verhalten. Louis Alliot habe sich eindeutig vom Antisemitismus distanziert, habe in seiner Stadt einen Erinnerungsort für Juden auf der Flucht nach Spanien während des 2. Weltkriegs geschaffen und sei wesentlich weniger radikal als viele andere in seiner Partei.
Mag sein, doch Serge Klarsfeld hat dabei leider enorm unterschätzt, wie er mit dieser Geste einen beträchtlichen Beitrag zur allgemeinen Banalisierung und Normalisierung der rechtsextremen Partei geliefert hat.
Die Demonstration nach dem 7. Oktober
Ein weiteres, beachtliches Anzeichen für die «Normalisierung» der rechtsextremen Partei: Das «Rassemblement National» ist für einen Teil der jüdischen Gemeinde Frankreichs zu einer Option, das heisst wählbar geworden, und Marine Le Pen weiss, dass es hier noch weitere Stimmen zu holen gibt.
Als sie nach dem Pogrom der Hamas am 7. Oktober 2023 bei einer von den Präsidenten der Nationalversammlung und des Senats reichlich spät organisierten Solidaritätsdemonstration für Israel mit einer ganzen Delegation auf dem Pariser «Place du Trocadéro» erschien, wurde sie sehr wohlwollend begrüsst, ja beklatscht. Und auch der oben erwähnte Serge Klarsfeld, der legendäre Nazijäger, auf den Gehstock gestützt, begrüsste ihre Anwesenheit.
Ein Teil der jüdischen Gemeinde Frankreichs ist schon seit mehreren Jahren bereit, den Rechtsextremen ihre Stimme zu geben. Der Hintergedanke dabei: Le Pen macht gegen Einwanderung mobil. Und unter den Immigranten sind die Mehrheit nun einmal Muslime und tragen bereits seit geraumer Zeit, zumindest teilweise, einen nicht mehr abzustreitenden arabisch-muslimischen Antisemitismus vor sich her.
In diesem Kontext meint ein Teil der jüdischen Gemeinde Frankreichs ganz offensichtlich, Marine Le Pen würde sie am besten vor diesem neuen Phänomen schützen können.
Gewöhnung
Alles in allem geht es dem rechtsextremen «Rassemblement National» keine 50 Tage vor den Europawahlen und drei Jahre vor den nächsten Präsidentschaftswahlen ausgezeichnet. Im Lauf der letzten beiden Jahre sind Marine Le Pen und ihre Partei in grossen Schritten in den Augen der Franzosen nicht nur immer hoffähiger geworden, sie haben es sogar geschafft, dass sich immer mehr Menschen in diesem Land an den Gedanken gewöhnen könnten, dass Marine Le Pen 2027 tatsächlich Präsidentin der Republik werden könnte.
Der Essayist und Ökonom, Alain Minc, ein wendehalsiger Intellektueller, der seit François Mitterrand so ziemlich alle Präsidenten, ob links oder rechts, beraten hat und trotz allem ein feinsinniger Beobachter der politischen Entwicklungen in Frankreich geblieben ist, hat jüngst in einer Tageszeitung eine sehr sorgenvolle Kolumne veröffentlicht unter dem Titel: «Ich bin schockiert von der Resignation der führenden Kräfte dieses Landes angesichts der möglichen Wahl von Marine Le Pen zur Staatspräsidentin.»
Und in der Tat: niemand scheint momentan in der Lage, einen Weg zu weisen, wie der Aufstieg von Marine Le Pen, Jordan Bardella und der Partei «Rassemblement National» gestoppt werden könnte.