Stammt das SARS-CoV-2-Virus aus einem Labor in Wuhan oder wurde es von einem Tier – mutmasslich von einer Fledermaus – auf den Menschen übertragen? Die Frage erscheint klar, und intuitiv neigt man dazu, den Hypothesenstreit in einem Entweder-oder-Raster zu beantworten. Die Fachgemeinschaft gab eher der Hypothese der Zoonose – also der Übertragung durch ein Tier – den Vorzug, und obwohl man keinen Zwischenwirt gefunden hatte, herrschte ein Konsens, der andere Hypothesen ausschloss.
Im März 2021 publizierte die WHO einen Bericht über die Ursachen der Pandemie. Ein Team von Wissenschaftern war eigens nach China gereist, und basierend auf Interviews und Untersuchungen im Wuhan Institute of Virology kam es zum Schluss, dass die Hypothese der Zoonose «wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich» und die Laborhypothese «sehr unwahrscheinlich» sei.
Keine einfachen Kausalketten
Das weckt Skepsis, und zwar aus verschiedenen Gründen. Zunächst sollte man nicht erwarten, einfache Kausalketten zu finden, die von der Wirkung – also der Ausbreitung – eindeutig zurück zu einer Ursache – also etwa zu einem «Leck» im Labor – führen. Die Rückschlüsse in der Epidemiologie liefern keine «Kausalkette», wohl aber mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothesen.
In der Statistik hat sich schon seit einiger Zeit die sogenante Bayes-Methode durchgesetzt, um von Daten auf Hypothesen zurückzuschliessen. Gerade sie mahnt uns zu besonderer Vorsicht im Umgang mit dem Etikett «unwahrscheinliche Hypothese». Es ist keine Disqualifizierung, sondern Ansporn zu echter Forschung. Häufig verwandeln sich nämlich unwahrscheinliche Hypothesen, die der Intuition oder fixen Meinung widersprechen, bei neuer Datenlage in ziemlich wahrscheinliche.
Fehlende Datenevidenz
Und damit stossen wir auf ein zweites Problem: Fehlende Datenevidenz sowohl für die Laborhypothese wie für die Tiermarkthypothese. Das nächste verwandte Virus zum SARS-CoV-2-Virus wurde in einer Fledermausart, der Hufeisennase, identifiziert. Aber der Übertragungsweg zum Menschen, sollte er existieren, ist unbekannt.
Andererseits, so ein Virologe, habe man SARS-CoV-2-Viren nirgendwo sonst als beim Menschen gefunden. Zudem befinde sich im Wuhan-Institut eine der grössten Sammlungen von Fledermaus-Coronaviren. Im Übrigen, so hört man ebenfalls, würde man nicht nur in China Forschungen über «Funktionsgewinne» bei Viren betreiben, also Viren gentechnisch zu ganz bestimmten Zwecken umrüsten. Laborlecks seien ohnehin weitaus häufiger als allgemein angenommen.
Diese Gemengelage der Daten ist alles andere als eine sichere Evidenzbasis, und sie rechtfertigt keineswegs die Wendung «wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich». Das ist Communiqué-Phraseologie. Der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, gab kürzlich zu: «Ich glaube nicht, dass die Untersuchung umfassend genug war.»
Tückische Probleme
Und wenn die Frage nach den Ursachen der Corona-Pandemie trotz hinreichender Untersuchung unbeantwortet bleibt? Man muss das Scheitern nicht unbedingt der Forschung anlasten. Vielmehr könnte das an der Problemsituation selbst liegen. Und hier stossen wir auf eine dritte Schwierigkeit. Das Virus ist ein grosses Problem. Grosse Probleme wachsen uns über den Kopf. Was wir dabei weniger bemerken: Der Charakter dieser Probleme wandelt sich. Sie werden „tückisch“.
Den Begriff führten die Planungsforscher Horst Rittel und Melvin Webber 1973 ein, um gewisse Dilemmata in der Sozialpolitik zu beschreiben. Er erscheint wie massgeschneidert für die gegenwärtige pandemische Situation. Das Virus hebt uns quasi auf ein neues Problemniveau. Es unterliegt durchaus Naturgesetzen, aber mit Naturwissenschaft allein kommen wir ihm nicht bei. Es ist ein Studienobjekt, das sich aus natürlichen, gesellschaftlichen, politischen, ideologischen Komponenten zusammensetzt: ein molekular materialisiertes Rezept zur Selbstkopierung, das uns immer wieder epidemisch bedroht, Schutzmassnahmen nötig macht, Wirtschaftszweige austrocknet, Gewohnheiten und soziale Verhältnisse aufmischt, die Glaubwürdigkeit altbewährter demokratischer Institutionen unterminiert.
Murks happens
Tückische Probleme «löst» man nicht, man behebt sie, wie Rittel und Weber schreiben. Man könnte auch sagen: Tückische Probleme führen zu Murks-Lösungen. Im englischen Ingenieurjargon existiert der Ausdruck Kludge oder Kluge (ausgesprochen «kladsch» oder «kluudsch»): eine zusammengeflickte, behelfsmässige, temporäre, mitunter unnötig komplizierte Behebung eines technischen Defekts oder Problems, kurz: ein Murks. Formulieren wir daraus hypothetisch das Murks-Prinzip: Von einem kritischen Komplexitätsgrad an arbeiten natürliche und künstliche Systeme zwangsläufig im Murks-Modus.
Daraus folgt ein viertes Problem im Umgang mit dem Virus. Wiegen wir uns nicht in der falschen Zuversicht, Murks liesse sich quasi «von Null auf sauber» beheben. Man missachtete so das «Gall’sche Gesetz», eine in Designerkreisen bekannte Maxime. Salopp ausgedrückt lautet sie: Versuche nicht, ein Murks-System auseinanderzunehmen und von Null auf zu revidieren. Baue auf funktionierenden Murks und versuche, ihn schrittweise zu verbessern. Mit John Gall ausgedrückt: Murks-Systeme sind wie Babys; wenn man eins kriegt, hat man es. Nicht nur kann man es nicht entsorgen, es wächst auch. Es gibt eine Art von Murks-Entropie. In diesem Sinn werden wir uns wahrscheinlich auch in der Behebung der Coronakrise mit epidemiologischem Murks abfinden müssen. Schlechte Zeiten ziehen Kreise.
«Mehr Forschung» nützt der Politik nicht
Das beschert uns ein fünftes Problem. In der «Esoterik» wissenschaftlicher Forschung ist das Denken in Wahrscheinlichkeiten, das Abwägen von Ungewissheiten, die Skepsis gang und gäbe. In der «Exoterik» der Politik mit Ungewissheiten zu handeln, ist vielleicht ehrlich, aber paradoxerweise irreführend, wenn nicht riskant. Das liegt in der Natur der politischen Auseinandersetzung.
Wissenschafter können die Annahmen von Konkurrenten in Zweifel ziehen. Aber Politiker repräsentieren bestimmte Wählergruppen und -interessen. Sie müssen die Annahmen ihrer Wähler – vielleicht contre coeur – vertreten. Ansonsten riskieren sie, nicht mehr gewählt zu werden. Sie sehen sich in gewissen Situationen womöglich zum Tun-als-ob gezwungen: Ja, wir kennen die Sachlage nicht genügend, aber wir müssen so handeln, als ob wir sie kennten. Entscheidungen in der Politik können nicht auf «mehr Forschung» warten. «Mehr Forschung» ist oft eine redundante Beschwichtigungsfloskel, welche nur die Ratlosigkeit der Politiker kaschiert.
Das Syndrom der Postnormalität
Diese fünf Probleme – es gibt noch mehr davon, zum Beispiel die geopolitische Komponente – lassen sich als ein Charakteristikum der Wissenschaft im 21. Jahrhundert interpretieren. Ich nenne es das Syndrom der Postnormalität. Den Begriff prägten die Wissenschaftsphilosophen Jerome Ravetz und Silvio Funtowicz schon in den 1990er Jahren mit Blick vor allem auf die Klimakrise und auf Megatechnologien.
Nun gesellt sich dazu noch die Coronakrise. Und vermutlich werden weitere planetarische folgen. Postnormalität heisst in Kürze: Lösungen sind dringend, die Fakten ungewiss oder uneindeutig, die Theorien fragmentarisch, die Risiken hoch und die Interessen vielfältig. Der «normale» Ansatz der Forschung, komplexe Probleme mittels Leittheorien oder Paradigmen in fachinterne, disziplinäre «Rätsel» zu übersetzen und sie dergestalt behandelbar und lösbar zu machen, greift heute auf vielen neuralgischen Feldern zu kurz. Zur «Lösung» einer Epidemie gibt es kein Paradigma.
Erkenntnistheoretische Demut
Direkter noch als das Klima drängt das Virus zu einem Mentalitätswandel: Die Wissenschaft muss sich von der «neutralen» Laborsituation verabschieden. Das Labor ist jetzt die Gesellschaft, die lokale und die globale. Bedeutet dies Abschied von der Objektivität? Mitnichten. Es bedeutet, dass die Wissenschaft sich in den kommenden Problemsituationen neu positionieren muss. Wir sind abhängiger denn je von ihren Problemlösungen, aber machen wir uns zugleich den tückischen Charakter der Probleme bewusst! Verfallen wir also nicht der Illusion, sie zu «zähmen», sei dies mittels Daniel-Düsentrieb-Erfindungen oder wissenschaftlichen Grossvisionen! Man könnte das erkenntnistheoretische Demut nennen.