Dass die Europäische Union angesichts des Urteils des polnischen Verfassungsgerichtes in Aufruhr geraten ist, kann nicht verwundern. Auch in Polen selbst sind Zehntausende auf die Strassen gegangen und haben protestiert. Nach ihren Gründen befragt, sagten viele, sie wollten doch nicht in jene Zeiten zurückgeprügelt werden, als man vor der Grenze noch Schlange stehen musste oder die Ausreise in andere europäische Länder sogar verweigert werden konnte. Wie selbstverständlich gingen sie davon aus, der Gerichtsentscheid sei der Anfang eines beabsichtigten „Polexit“.
Das sehen die Verantwortlichen der in Polen herrschenden PiS-Partei offensichtlich anders: Sie versichern, man wolle weiterhin der EU angehören – verständlich angesichts der Milliarden, die in Brüssel bereitstehen. Die EU verfügt über eine ganze Palette von Massnahmen, die nun gegen Polen zur Anwendung kommen können und zum Teil auch bereits initiiert worden sind. Nun wird man nicht mehr zögern, auch die Auszahlung von Geldern aufzuschieben, so zum Beispiel die 36 Milliarden aus dem Corona-Wiederaufbaufonds, die eigentlich bereits bewilligt worden sind. Die Rechtsgrundlage dazu wurde bei der Einrichtung dieses Fonds geschaffen.
Wirklichkeitsfremde Vorstellung
Der grosse Unterschied zum Brexit liegt in einem Widerspruch: Die PiS-Partei will, dass Polinnen und Polen weiterhin von den Freiheiten profitieren, die das EU-Recht garantiert. Aber sie beanspruchen Souveränität und wollen den Vorrang des EU-Rechtes vor dem nationalen Recht nicht länger akzeptieren. Das ist eine sehr wirklichkeitsfremde Vorstellung. Ob die EU ein Staat sei oder noch nicht, diese Frage kann lange und ausführlich diskutiert werden, ohne in absehbarer Zeit eine Antwort zu finden. Dass die Union aber in genau definierten Verfahren der Rechtssetzung eine einheitliche Rechtsordnung geschaffen hat, steht ausser Frage. Die einheitliche Geltung dieses Rechtes in allen Mitgliedstaaten ist die Voraussetzung für das Funktionieren der Union, und nationales Recht muss damit in Übereinstimmung gebracht werden. Schliesslich – und dies ist gleichsam der Scheitelstein in der Konstruktion des EU-Rechts – muss es eine Institution geben, welche Meinungsverschiedenheiten bei der Anpassung von nationalem Recht ans EU-Recht schlichten kann, und diese Schlichtungsstelle ist der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Seine Urteile müssen in den Mitgliedstaaten Geltung haben, sonst fällt die EU auseinander.
Möglicherweise löst die Perspektive eines beginnenden „Polexit“ heilsame Erkenntnisprozesse aus. Würde nämlich die EU die Sicht der PiS-Regierung tolerieren, wäre dies der Beginn ihrer Selbstauflösung. Es gibt genügend Mitgliedstaaten, die das verhindern werden. Zur Erinnerung: Der Brexit hat dazu geführt, dass die 27 verbliebenen Staaten näher zusammenrückten und nicht bereit waren, Grossbritannien beim Austritt aus der EU Konzessionen zu machen, welche über die Rechte der Mitgliedstaaten hätten hinausgehen können.
Büchse der Pandora
Übringens werden sich einige Richter am deutschen Bundesverfassungsgericht heute vielleicht einige Gedanken machen. Mit ihrem damaligen Entscheid, die Vereinbarkeit der Anleihenkäufe der EZB mit dem deutschen Verfassungsrecht zu überprüfen – und notabene diese Vereinbarkeit zu verneinen, wenn auch nur in Detailfragen –, haben sie die Büchse der Pandora zwar nur einen Spaltbreit geöffnet. Jetzt wird deutlich, was alles in dieser Büchse verborgen war.
Nicht uninteressant aber sind die Entwicklungen in Polen und in der EU vor allem für die Schweiz. Im Massstab 1:1 wird zu beobachten sein, was die EU ist und wie sie funktioniert. Vielleicht tragen diese Beobachtungen sogar zur Erkenntnis bei, wie und warum man die EU nicht von innen verändern kann, ohne die Konsequenzen zu ziehen und auszutreten, wie es die Briten getan haben. Und das könnte nebenher – oder kollateral, wie das heute genannt wird – auch die Einsicht fördern, dass es von ausserhalb der EU noch viel weniger möglich ist, diese zu verändern, wenn es schon von innerhalb nicht gehen wird. Oder im Klartext: Es gibt keine Teilnahme am Binnenmarkt ohne Anerkennung des EuGH.