50 Milliarden Euro Finanzhilfe, Aufnahme von Beitrittsverhandlungen – die EU hat Grosses vor mit der kriegsgeplagten Ukraine. Gross sind denn auch die Herausforderungen für die Europäische Union, die mit diesen Vorhaben verbunden sind. Ohne einschneidende interne Reformen in den nächsten Jahren lassen sie sich nicht stemmen.
Die Europäische Union (EU) hat in jüngster Zeit weitreichende Entscheide zugunsten der von Russland militärisch angegriffenen Ukraine gefällt. Anfang Februar entschied der Europäische Rat, das Beratungs- und Entscheidungsgremium der Staats- und Regierungschefs der EU, die Ukraine in den vier Jahren von 2024 bis 2027 mit 50 Milliarden Euro Finanzhilfen zu unterstützen. 33 Milliarden davon sind Kredite, die verzinst und zurückbezahlt werden müssen. 17 Milliarden sind nicht-rückzahlungspflichtige Darlehen. 4,5 Milliarden Euro sollen bereits im März an die Ukraine überwiesen werden. Das kriegsversehrte Land benötigt das Geld dringend, um Renten und Löhne von staatlichen Angestellten in Regierung, Schulen oder Spitälern und um laufende Ausgaben des Staats bezahlen zu können. Würden die EU-Finanzhilfen nicht fliessen, droht der Ukraine der Staatsbankrott.
Immer deutlicher wird damit, dass «die EU für die Ukraine der finanzielle Rettungsring» ist, wie die NZZ schrieb. Bereits im vergangenen Jahr hat kein Land und keine internationale Organisation der Ukraine so viele Zuschüsse an den Staatshaushalt gewährt wie die Europäische Union, nämlich 19,5 Milliarden Dollar. Die USA zahlten 10,9 Milliarden Dollar. Noch grösser wird das Gewicht der EU, wenn man die bilateralen Hilfen einzelner Mitgliedstaaten mitrechnet. Die USA bleiben aber der grösste militärische Unterstützer der Ukraine.
Die Bedeutung der EU hat jüngst noch zugenommen, weil die Ukraine-Hilfe der USA im Kongress, dem amerikanischen Parlament, stockt. Der Entscheid der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel ist auch ein Signal an Washington. Dort haben im Kongress vor allem die Republikaner das Gefühl, dass die EU und Europa zu wenig tun für die Ukraine. Die EU zeigt nun, dass sie bereit ist, ihren Teil beizutragen. Voraussichtlich benötigt die Ukraine 2024 rund 36 Milliarden Dollar internationale Budgethilfe, um einen ausgeglichenen Haushalt zu erzielen.
Finanzhilfe für die Ukraine braucht langen Atem
Unabhängig davon wie das Tauziehen im US-Kongress um die Ukraine-Hilfe ausgeht, wird sich der osteuropäische Staat im Zukunft stark auf die EU als Geldgeber verlassen müssen. Und diese hat sich auf eine lange Phase der finanziellen Unterstützung einzustellen. Dabei stellt die Ukraine-Hilfe eine schwere Last für die EU dar. Bereits jetzt musste sie Umschichtungen im Haushaltsplan 2021 bis 2027 vornehmen, um die 50 Milliarden Euro freizubekommen. Zudem kommen weitere hohe zusätzliche Ausgaben auf die Europäische Union zu, etwa um die Verteidigungsfähigkeit zu stärken, den Klimaschutz zu verbessern oder die Landwirtschaft umzubauen. Das wird zwangsläufig zu Konflikten innerhalb der EU führen, da die Budgets der meisten Mitgliedstaaten angespannt sind. Kein Wunder deshalb, dass der belgische Premierminister Alexander De Croo jüngst sagte, die EU brauche neue Finanzquellen. Sein Land hat derzeit die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union inne. Der Vorschlag ist bereits auf heftige Kritik gestossen.
Die Finanzhilfen der EU für die Ukraine sind aber noch nicht alles. Mitte Dezember 2023 gab der Europäische Rat grünes Licht für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit dem osteuropäischen Land. Das ist ein weiterer starker Beweis für «die unverbrüchliche Unterstützung der Europäischen Union für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen und das naturgegebene Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung gegen den Angriff Russlands», wie es in den Schlussfolgerungen des Gipfeltreffens der EU-Staats- und Regierungschefs heisst.
Auch wenn die Beitrittsverhandlungen Jahre dauern werden und an einen Beitritt der Ukraine zur EU erst zu denken ist, wenn Russland seine militärische Aggression beendet hat, sind die Konsequenzen dieses Vorhabens für die Europäische Union gewaltig. Denn die Ukraine ist ein sehr grosser, mausarmer Staat, dessen Gesellschaft und Institutionen zum Beitrittszeitpunkt jahrelang im Kriegsmodus funktioniert haben werden und dessen öffentliche und zivile Infrastruktur nach Kriegsende teilweise in Trümmern liegt. Der Wiederaufbau des Landes und Massnahmen zur Verringerung der Wohlstandslücke zur übrigen EU werden zig Milliarden verschlingen.
Übernimmt sich die EU mit dem Beitritt der Ukraine?
Die EU wird zwar von dieser Last nicht alles allein schultern müssen. Dennoch ist die Gefahr gross, dass sie sich mit dem Beitritt der Ukraine übernimmt. Ein paar Hinweise mögen das veranschaulichen. Die Ukraine wäre flächenmässig das zweitgrösste Land der EU, bevölkerungsmässig das fünftgrösste. Die landwirtschaftlich genutzten Flächen in der Ukraine sind grösser als Deutschland insgesamt. Zudem ist die Ukraine deutlich ärmer als Bulgarien, das ärmste Land in der EU. Im Hinblick auf einen Beitritt der Ukraine zur EU müsste diese deshalb ihre Agrarpolitik sowie ihre Struktur- und Regionalpolitik einschneidend reformieren.
Da Agrarpolitik sowie Struktur- und Regionalpolitik heute zusammen zwei Drittel des EU-Budgets verschlingen, müssten auch die Finanzierung der Europäischen Union auf vollständig neue Beine gestellt und zusätzliche Geldquellen erschlossen werden. Nettozahler, also Mitgliedstaaten, die mehr Geld an den EU-Haushalt abführen als sie aus ihm zurückbekommen, würden vermutlich noch stärker zur Kasse gebeten. Und einige heutige Nettoempfänger, also Mitgliedstaaten, die mehr Geld aus dem EU-Haushalt erhalten als sie in ihn einzahlen, würden wahrscheinlich zu Nettozahlern. Dass das grosses Potenzial für Streit zwischen den Mitgliedstaaten birgt, muss nicht besonders betont werden.
Die EU wird sich also bald reformieren müssen. Dies nicht nur, weil sie die Ukraine in den Kreis ihrer Mitglieder aufnehmen will, sondern weil auch noch ein halbes Dutzend weitere Staaten aus dem Balkan und Osteuropa vor ihrer Tür warten. In den Schlussfolgerungen des Dezember-Gipfeltreffens der EU-Staats- und Regierungschefs heisst es deshalb: «Der Europäische Rat wird sich auf seinen nächsten Tagungen mit internen Reformen befassen, damit bis zum Sommer 2024 Schlussfolgerungen zu einem Fahrplan für die künftige Arbeit angenommen werden können.» Den Staats- und Regierungschefs ist also bewusst, dass sich die EU ändern muss, um die Ukraine und weitere Staaten aufnehmen zu können.