Da fand die richtige Veranstaltung zum richtigen Zeitpunkt statt. Unter dem auf den ersten Blick nichtssagenden Titel ‘Die Schweiz und ihre Nachbarn’ wurden anlässlich einer kürzlichen Tagung in Zürich über zwei brandaktuelle Themen internationaler Politik, und für einmal auch schweizerischer Aussenpolitik, kontrovers diskutiert. Anlass war die Präsentation von ‘Strategic Trends 2014’, ein Jahresüberblick der gegenwärtigen Tendenzen in den internationalen Beziehungen. Herausgegeben wird der Bericht vom wichtigsten universitären Think Tank der Schweiz in diesem Bereich, dem reputierten Center for Security Studies der ETH-Zürich.
Das erste Thema der Tagung, die EU und ihr internationals Gewicht steht für die schweizerische Aussenpolitik seit der Abstimmung vom 9. Februar im Vordergrund. Für den Rest der Welt steht Putin im Zentrum, der mit der Annexion der Krim Europa sowohl wirtschaftlich als auch politisch herausgefordert hat.
Folgen Putins Husarenritt weitere Schritte?
Das zweite Thema, eng mit dem ersten verbunden, betraf den weiteren Verlauf der Krise um die Ukraine. Kann überhaupt vermittelt werden? Und wenn ja, wie und wer soll das tun? Werden Putins Husarenritt auf der Krim weitere Schritte postsowjetischer Grossmachtpolitik folgen? Wo würde das geschehen?
Die Publikation ‘Strategic Trends 2014’ ist erstmals auch als E-Book kostenfrei erhältlich. Die Lektüre lohnt sich. Die behandelten Themen decken das gesamte Spektrum internationaler Bezeihungen ab. Mit einer Ausnahme: Der Grossraum Asien-Pazifik hätte in der CSS-Studie ein eigenes Kapitel verdient. Hinter dem aktuellen Feurschein von Krisenherden in Osteuropa und im Mittleren Osten kann und darf die wichtigste, im Moment wenig aktuelle aber latente Bedrohung des Weltfriedens - ein Konflikt in Ostasien mit praktisch automatischem Kriseneintritt aller Weltmächte - nicht vergessen werden.
Ukraine-Krise fördert EU-Vergemeinschaftung
Wohl bezeichnend für spezifisch schweizerisches Empfinden standen sich bei der Diskussion über die politische Weiterentwicklung der EU auf der einen Seite zwei deutsche Referenten mit zwar kritischer aber letzlich positiver Einschätzung der Krimkrise auf die Kohärenz der EU gegenüber. Auf der anderen Seite diskutierten schweizerische Experten für internationale und nationale Sicherheitspolitik, im Panel und im Publikum, mit zumindest skeptischer Einstellung zur GSVP (Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU).
Almut Möller von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sieht für ‘Brüssel’ zwar noch grosse Aufgaben (Aufräumarbeiten nach der Eurokrise) und fällige Reformen (Verhältnis zwischen Eurozone und dem Rest der EU), sowie die grosse Unbekannte “Europawahlen” mit neuen institutionellen Folgen. Sie ist aber überzeugt, dass die Ukrainekrise den Prozess der Vergemeinschaftung vorwärts bringen wird.
Kein Kurswechsel in der Schweiz
Marco Overhaus von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin konzentrierte sich in seinen einleitenden Ausführungen auf das Verhältnis zwischen Europa und den USA, das nicht einfacher wird. Er glaubt aber ebenfalls, dass europäische und transatlantische Solidarität sich angesichts der russischen Herausforderung letztlich durchsetzen wird, sowohl in der EU als auch in der NATO.
Bruno Rösli vom Eidgenössischen Departement für Verteidigung wies auf den Grundsatz hin, dass Sicherheit und Verteidigung zu den ausgesprochen souveränitätsheiklen Bereichen nationaler Politik gehören, nicht nur in der Schweiz. Er sieht keine Aussicht, dass schweizerische Sicherheitspolitik in nächster Zeit grundlegend umgestaltet werden wird. Interessant immerhin seine Aussage in der Diskussion , dass bei einer Festigung und Verstärkung der GSVP auch die Schweiz sich entsprechend zu verhalten haben werde.
Zurück zur “G-2-Politik”
Zum zweiten Thema, der Frage der Weiterentwicklung in der Ukrainekrise standen sich dann die Darlegungen zweier Panelteilnehmer diamentral gegenüber. Folk Bomsdorf, ehemaliger Leiter des Moskauer Büros der Friederich-Naumann-Stiftung (Think Tank der deutschen FDP) und an der Uni im damaligen Leningrad tätig, und zwar zur Zeit, als dort der Jurastudent V. Putin eingeschrieben war. Er sieht dessen Vorgehen in der klassischen Tradition zaristischer und sowjetischer Aussenpolitik, welche via Expansion Grossmachtstatus anstebt. Russland wolle wieder in die Zeit der “G-2 Politik” zurück, in der das Zweigespann USA-UdSSR über dem Rest der Welt stand. In der Folge interner Schwächen wirtschaftlicher und politischer Art kann Russland direkt an seinen Grenzen keine blühenden Demokratien dulden. Eine allfällige ‘Finnlandisierung’ der Ukraine ist schwierig; das auf westlicher Seite dazu erforderliche Grundvertrauen in die künftige russische Aussenpolitik fehlt.
Der Östereicher Gerhard Mangott, Professor an der Uni Innsbruck, outete sich als klassischer ‘Putin-Versteher’. Die Krimkrise ist im wesentlichen eine Folge der russischen Perzeption, als bestimmender Faktor der Weltpoltik nicht mehr Ernst genommen, und vom Westen eingekreist zu werden.
Russland nicht erniedrigen?
Interessant immerhin dass die beiden, trotz gegensätzlicher Diagnose der Krise zu ähnlichen Schlüssen mit Bezug auf deren zukünftigen Verlauf gelangen. Sie glauben nicht unbedingt an eine Weiterführung der, auch in Russland laut Bomsdorf so genannten ‘Anschlusspolitik’ im Sinne einer bevorstehenden militärischen Invasion der Ostukraine. Sie sind aber beide davon überzeugt, dass Moskau eine Destabilisierung der gesamten Ukraine, bis hin zum Status eines ‘failed state’, versuchen werde. Wie sich die eben erfolgte Gewährung eines Nothilfekredites des internationalen Währungsfonds IWF, geschweige denn das kommende Paket der EU für die Ukraine mit umfassenden Massnahmen zur Stabilisierung und westlichen Einbindung des Landes in dieser Perspektive auswirken werden, blieb an der Tagung offen.
Der schweizerische Nationalrat Andy Gross kam ausführlich auf seine direkten Erfahrungen in Russland und mit russischen Politikern, einschliesslich Putins zu sprechen, und warnte davor, ‘Russland als Verlierer zu erniedrigen’.
Einig war man sich an der von Oliver Thränert, Head CSS Think Tank, souverän geleiteten Tagung, dass die Schweiz als Vermittler eine gewisse Rolle spielen kann. Von den nicht-schweizerischen Tagungsteilnehmern wurde dabei die schweizerische Funktion als OSZE-Präsident hervorgehoben, ohne eine einzige Erwähnung des Wortes Neutralität.