Allerdings sieht das geltende chinesische Recht und die chinesische Verfassung keineswegs vor, das Verhaftete spurlos verschwinden. Ein Sprecher der Pekinger Regierung jedoch gibt sich selbsbewusst: „Die Ermittlungen verlaufen strikte nach den Regeln des Gesetzes“.**
Im fernen Xinjiang "Bitterkeit gegessen"
Ai Weiwei, Sohn des berühmten und in ganz China verehrten Dichters Ai Qing, ist ein international berühmter bildender Künstler, Filmemacher, Photograph und Architekt. Er, der mit seinem Vater – der Ende der fünfziger Jahre als Rechtsabweichler verurteilt und „aufs Land herunter“ geschickt worden ist – lange Jahre im fernen Xinjiang aufgewachsen ist und dort, wie ein chinesisches Diktum es formuliert, „Bitterkeit gegessen“ hat, liess sich nie den Mund verbieten.
Nach seiner Rückkehr aus New York – er verbrachte dort entscheidende Jahre – wurde der heute 53 Jahre alte Wei in den 90er Jahren zunächst im Ausland mit seinen Werken, Installationen, seinen Photos, seiner Architektur bekannt. Ai Weiwei aber war auch ein Mann, der wegen seiner Erfahrungen in Xinjiang sich stets für die Benachteiligten und mit seinem wachen Gerechtigkeitssinn fuer die Unterdrückten einsetzte.
Von Unbekannten verprügelt
In neuerer Zeit nutzte Ai dafür das Internet und war ein fleissiger, viel gelesener Blogger. So verurteilte er zum Beispiel öffentlich die mangelnde Bauqualität der Schulen in der Provinz Sichuan, die beim Erdbeben zum Tod von Tausenden von Kindern gefuürt hat. Ai Weiwei konzipierte zusammen mit den Basler Architekten Herzog & Demeuron das „Vogelnest“-Olympiastadion, bezeichnete dennoch aber kurz vor den Spielen Olympia 2008 als Propaganda-Show der Partei und als „Maskerade“; er beklagte auch öffentlich die zwölf Wanderarbeiter, die beim Bau des Vogelnests ums Leben kamen, während seine Schweizer Freunde vornehm schwiegen.
Kurz, Ai Weiwei meldete sich unbequem zu Wort, öfter als es den Behörden lieb war. Er wurde nicht nur gewarnt sondern vor zwei Jahren von Unbekannten derart verprügelt, dass er wenige Tage spaeter während einer Kunstausstellung in München zusammenbrach und ins Spital transportiert wurde. Dort wurden ihm Blutgerinsel aus dem Hirn operiert.
Auch sein neu erstelltes, mit behördlichem Segen gebautes Atelier in Shanghai wurde dem Erdboden gleichgemacht. Dem von ihm organisierten Abriss-Fest in Shanghai konnte er nicht beiwohnen, weil Polizisten ihn in Peking unter Hausarrest hielten.
Eine optische Täuschung
In den letzten Monaten wurden Dutzende von Künstlern, Schriftstellern, Intellektuellen und Anwälten entweder verhaftet oder unter Hausarrest gestellt. In ausländischen Medien wird das mit den Ereignissen im Nahen Osten in direkten Zusammenhang gebracht. Das allerdings ist – trotz eines Internetaufrufs zu „friedlichen Jasmin-Spaziergängen“ in den städtischen Zentren – eine optische Täuschung.
Die neuste Repressionswelle hat schon lange vor der Jasmin-Revolution in Tunesien angefangen, nämlich vor ungefähr sechs Monaten. Und sie hat Methode. Getreu der seit dem Parteikongress 2007 geltenden konfuzianischen Parteilinie einer „harmonischen Gesellschaft“ hat „soziale Stabilität“ oberste Priorität. Die heute regierenden roten Mandarne nämlich fürchten wie einst die Kaiser Luan, d.h. Chaos; nicht selten verloren durch Chaos die Kaiser das „Mandat des Himmels“, also die Macht.
Auch der grosse Revolutionär und Übervater der 1978 initiierten Wirtschaftsreform, Deng Xiaoping, liess 1989 bei den Demonstrationen auf dem Platz vor dem Himmlischen Frieden Tiananmen in Peking die Armee auffahren und schiessen. Chaos, so der Chefreformer, bringe die Wirtschaftsentwicklung in tödliche Gefahr, und deshalb sei soziale Stabilitaet das uebergeordnete, allerwichtigste Ziel.
Nicht vergleichbar mit sowjetischen Dissidenten
Wenngleich es in China eine kleine Gruppe von aufbegehrenden Intellektuellen und Künstlern gibt, ist die Situation nicht vergleichbar mit der Dissidenten-Szene der ehemaligen Sowjetunion, also den Sacharows, Solschenyzins und vielen andern. Der chinesische Friedensnobelpreistraeger Liu Xiaobo, der für elf Jahre im Gefaengnis sitzt, ist beim Laobaixing, dem Durchschnitts-Chinesen völlig unbekannt. Vermutlich setzt die vor allem im reichen Küstengürtel und den Grosstädten im Innern ansässige neue Mittelklasse – rund 200 bis 300 Millionen Menschen – die gleichen Prioritäten wie die Partei, soziale Stabilität naemlich.
Durchgesetzt wird dieses Prinzip seit langem mit Zuckerbrot und Peitsche. Das Zuckerbrot besteht in kontinuierlich mehr Wohlstand, die Peitsche in der Unterdrückung auch des allerkleinsten Widerstands. Nichts anbrennen lassen, im Keim ersticken – das ist die Parole der Staatssicherheit. Davon betroffen sind nicht nur Ai Weiwei, Künstler und Intellektuelle, sondern auch demonstrierende Bauern, die von lokalen Kadern übers Ohr gehauen werden, aufmüpfige Städter, die für das Niederreissen ihrer alten Wohnblöcke zu wenig Kompensation erhielten oder „freche“ Wanderarbeiter, die ultimativ ihre ausstehenden Löhne fordern.
"Das Huhn töten, um die Affen zu erschrecken"
Beim Vorgehen gegen Ai Weiwei handelt die Partei nach dem chinesischen Sprichwort „das Huhn töten, um die Affen zu erschrecken“. Ai naemlich ist in Chinas Künstlerkreisen wohlbekannt, wenn auch nicht unumstritten. Die Verhaftung ist mithin eine Warnung. Um ganz sicher zu gehen, wird Internet-Aktivist Ai Weiwei nun auch in Bloggs und in den Medien fertig gemacht. Auf nationalistischen Webforen sind etwa folgende Ausdrücke und Sätze zu lesen: „Verräter des Mutterlandes“ – „Fünf-Stern-Lakai des Westens“ – „Ai Weiwei ist ein fetter, vulgärer Mann, der sich gerne nackt auszieht und seinen Schwanz zeigt“ – „Ai Weiwei ist der Abschaum der Menschheit“ – „Ai Weiwei hasst unser Land“ – „Pornographischer Künstler“.
Hasserfuellte Ausdrücke und Formulierungen, die an längst vergangene Zeiten erinnern, z.B. an die Anti-Rechts-Kampagne 1957, als Ai Weiweis Vater Ai Qing als „Rechtsabweichler“ verurteilt und in die Verbannung geschickt worden ist.
"Kein Gesetz kann sie beschützen"
Es gibt zwar auch Verteidiger Ais, deren Äusserungen aber verschwinden nullkommaplÖtzlich von den Internet-Foren. Auch Zeitungen halten sich nicht zurÜck. „Hinreichende Belege fuer Steuerhinterziehung“ ist etwa zu lesen, eine Anschuldigung, die bei der wachsenden Mittelklasse gewiss gut ankommt. In der vom Sprachrohr der Partei, „Renmin Ribao“, herausgegebenen englischsprachigen Zeitung „Global Times“ heisst es, Ai Weiwei sei „mit antichinesischen KrÄften im Ausland verbuendet, um die Volksrepublick China ins Chaos zu stÜrzen“.
Ai Weiweis Schicksal ist – nach allen Erfahrungen – besiegelt. Er wird für Jahre im Gefängnis verschwinden. Oder täusche ich mich? Wird er doch noch, wie offiziell versprochen, „nach geltendem chinesischen Recht“ behandelt? Wohl nicht. Die Sprecherin des Aussenministeriums, Jiang Yu, machte klar, dass das Gesetz fuer „Störenfriede nicht als Schutzschild“ dienen könne, im Gegenteil: „Kein Gesetz kann sie beschützen“.