Um 03.30 Uhr (Schweizer Zeit) geschah es. CNN-Kommentator Wolf Blitzer sagt in der Wahlnacht als Erster: „Mit Trump ist zu rechnen, er schneidet auffallend gut ab.“ Eine CNN-Korrespondentin erklärt kurz darauf im demokratischen Hauptquartier in Manhattan: „Die Leute sind fassungslos und versteinert. Innerhalb von zwei Stunden hat die Stimmung völlig umgeschlagen.“
Kaum jemand hatte vor knapp vier Jahren einen Sieg Trumps erwartet. Mit gutem Grund nicht. Fast alle Meinungsforschungsinstitute sagten seit Monaten einen teils überwältigenden Triumph von Hillary Clinton voraus. Nate Silver, der bekannteste Wahlanalyst der USA, hatte noch kurz vor der Wahl erklärt, Hillary Clintons Siegeschance lägen bei 84,4 Prozent. Nate Silver gilt als „Umfrage-Papst“, als „Nathan der Weise“, weil bisher fast alle seiner Prognosen richtig waren. Kein einziges der grossen Institute tippte auf Trump. Vor allem auch nicht, weil kurz vor der Wahl ein Video auftauchte, auf dem Trump mit frauenfeindlichen Sprüchen prahlte. Bob Beckel, ein Polit-Kommentator, sagte auf CNN vier Wochen vor der Wahl, Clinton werde klar siegen: „Dieser Wahlkampf ist zu Ende. Es gibt kein Rennen um die Präsidentschaft mehr.“ Es kam anders.
Auch jetzt sagen die grossen Umfrageinstitute eine klare Niederlage von Trump voraus. Der Demokrat Joe Biden liegt landesweit in allen Umfragen mit einem teils überwältigenden Vorsprung in Führung. Fox News, noch immer der Haussender von Trump, ermittelt für den Präsidenten 38 Prozent, für Biden 50 Prozent. CNBC gibt Biden 51 und Trump 41 Prozent. Der Economist/YouGov prognostiziert: Biden 50 Prozent, Trump 41 Prozent.
Trumps Arbeit (Job Approval) wird von einer grossen Mehrheit negativ beurteilt. CNBC: 43 Prozent positiv, 57 Prozent negativ; Reuters/Ipsos: 39 Prozent positiv, 58 Prozent negativ. Bis zu 44 Prozent der Befragten (Economist/YouGov, Politico) sagen, das Land sei „on a wrong track“ – auf falschem Weg.
Wichtig sind nicht nur die landesweiten Ergebnisse, sondern die Umfragen in den Schlüsselstaaten, in denen Trump vor vier Jahren eher überraschend gewonnen hat. Dort könnte sich ein Meinungsumschwung abzeichnen. So sieht CNBC (am 17. Juni) in Pennsylvania, Florida, Arizona und Wisconsin eine Mehrheit für Biden voraus. In diesen Staaten hatte Trump gewonnen. Selbst in North Carolina schmilzt die Unterstützung für den Präsidenten.
Aufgrund dieser Werte würde der Schluss nahe liegen, dass Trump die Wahlen verliert. Einige Trump-Gegner jubeln schon. Sie täten gut daran, dies zu unterlassen. Das Debakel der Meinungsforscher vor vier Jahren mahnt zur Vorsicht. Noch kann in den verbleibenden viereinhalb Monaten viel geschehen. Welchen Einfluss wird Corona und die „Black Lives Matter“-Bewegung haben? Oder Boltons Generalabrechnung? Und die Wirtschaft? Vor vier Jahren schämten sich viele, den Meinungsforschern zu gestehen, dass sie für Trump stimmen. Im stillen Wahlkämmerlein taten sie es dann trotzdem. Das war einer der Gründe für das Fiasko der Wahlforscher. Dies könnte wieder geschehen. Alles ist noch völlig offen. Man kann nur spekulieren.
Seien wir vorsichtig: Das einzige, was man heute sagen kann, ist: Die Chance/die Gefahr (je nach Sichtweise), dass Trump nicht mehr gewählt wird, ist heute grösser als noch vor einigen Wochen.