Mit dem langjährigen ZEIT-Korrespondenten in Istanbul und Moskau, Michael Thumann, und der Leiterin des Zentrums für angewandte Türkeistudien der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Hürcan Alsi Aksoy, diskutiere ich über Erdoğans Wahl und die Zukunft der Türkei.
Michael Thumann beschreibt die Türkei als ein «gespaltenes Land», das einen «polarisierten Wahlkampf mit sehr viel Hässlichkeiten» erlebt habe. Dabei hätte die Wahl «eigentlich ein Plebiszit und eine Rechenschaftsablegung sein müssen über mindestens fünf Jahre desaströser Wirtschafspolitik mit bewusst herbeigeführter Inflation». «Die Opposition hatte echt gehofft, es diesmal umzukippen», so Hürkan Aksoy.
Aber Erdoğan hat gesiegt. – Warum? Das habe, so Thumann, sehr viel mit der Identitätsfrage zu tun: «Wer bin ich und was ist meine Biographie?» Das Votum für Erdoğan sei «eine Wahl für die eigene Biographie» gewesen. «Ein erheblicher Teil der türkischen Bevölkerung identifiziert sich geradezu biographisch mit Erdoğan: Sein Aufstieg in den 2000er-Jahren, das war mein Aufstieg, da ging es mir plötzlich besser (…) Und all diese Identitätsfragen von Herkunft und Glaube (…) spielten eine wahnsinnig wichtige Rolle.» Das reiche aber noch «nicht für 50%. Ich glaube, dass es Erdoğan dann gelungen ist» im Wettlauf «um die Wechselwähler die nationalistische Karte zu spielen». Deshalb war dieser Wahlkampf auch so stark von nationalistischen Parolen geprägt, dass sich (sein Konkurrent) Kılıçdaroğlu auch darauf einliess. (…) «Die beiden haben dann geradezu einen Wettbewerb veranstaltet, wer mehr Syrer nachhause schickt.»
«Der Nationalismus», so Aksoy, «war immer wichtig» in der Türkei, aber er werde heute von sehr unterschiedlichen Gruppen vertreten. «Erdoğan hat auf die religiösen Nationalisten, die Opposition auf die urbanen Nationalisten» gesetzt. Dabei habe Erdoğan «eine kohärente Wahlstrategie erarbeitet», quasi «ein islamistisch-nationalistisches Bündnis», das habe der Wählerschaft «ein klares Bild» gegeben. Vom «ganz heterogenen Bündnis» des oppositionellen Sechsertisches mit «Sozialdemokraten, Nationalisten, Islamisten und Liberalen» glaubte man nicht, dass sie «das Land führen könne». Auch wenn kein grosser Wahlbetrug vermutet werden könne, habe es wohl «einen gewissen Grad an Manipulation», gegeben, so Thumann. Er kenne aber «keine Ziffern, keine Erhebung dafür, aber sagen wir ein oder zwei Prozent – dann sind wir genau bei dem Unterschied» im Wahlergebnis.
Bei aller Enttäuschung über den Ausgang der Wahlen, ist es nicht besser, dass jetzt Erdoğan selbst mit der von ihm angerichteten Wirtschaftskrise fertig werden muss, als dass eine siegreiche Opposition daran scheitern würde? Thumann möchte nicht ausschliessen, «dass sich die Türkei in einem stetigen Abwärtstrend befinden wird und daraus Chancen für die Opposition entstehen. Es kann aber auch sein, dass diese Autokraten an der Regierung sich gegenseitig helfen. Putin (…) hat ihm die Gasrechnung gestundet.» Es sei auch möglich, dass die Golfstaaten ihm «weiterhin Geld geben. Auf die Dauer reichen solche Spenden natürlich nicht aus». Und wenn dann «der Kühlschrank leer bleibt, werden die Menschen daraus ihre Schlüsse ziehen».
Dabei verfüge aber die Regierung, so Aksoy, quasi über ein Informationsmonopol, die «Medienlandschaft wird ja zu 90% von Erdoğan und Erdoğan-Cronies dominiert». 85% der Bevölkerung habe ihre Information zu den Wahlen «von den staatlichen Kanälen, die alle AKP dominiert sind» bezogen. «Dann ist es wahnsinnig schwierig für die Opposition, ihre Information rüberzubringen.»
Wird die Repression jetzt zunehmen? Aksoy geht davon aus, «dass die Regierung ganz gezielt auf die Oppositionspolitiker eingehen wird und dass sie mit Ekrem İmamoğlu, dem Istanbul Bürgermeister anfangen könnte». Die weitere Kriminalisierung der Opposition werde auch die kurdischen Parteien treffen ebenso die «zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie wir das nach dem Putschversuch 2016 gesehen haben». Damals seien mehr als 350 zivilgesellschaftliche Organisationen geschlossen worden. Das werde sich jetzt gegen Frauen- und LGBTQ-Organisationen richten, denen das «tägliche Leben erschwert» werde. «Aber die Zivilgesellschaft in der Türkei ist intakter und hat die Fähigkeit, sich umzuorientieren», «ganz im Gegensatz z. B. zu Russland», so Thumann, der jedoch befürchtet, dass die Regierung «in den kommenden Jahren diese Lücken» verbleibender Freiräume schliessen werde.
Die Aussenpolitik habe im Wahlkampf, so Aksoy, keine grosse Rolle gespielt. Es gebe zwar eine antiwestliche Haltung, aber «nicht nur bei Erdoğan, sondern auch bei der Opposition. Das Gefühl, dass das Land vom Westen allein gelassen wird, herrscht in grössten Teilen der Bevölkerung. Nach Umfragen sind 65–70% anti-westlich ausgerichtet. Und ich befürchte, nach der Wahl wird das noch weiter vertieft werden. (…) Erdoğan wird seine nationalistische, islamistische, antiwestliche Rhetorik» verstärken. Es gebe aber auch die Einschätzung, dass sich Erdoğan nochmals nach Westen orientieren kann, (…) «weil er unbedingt Auslandsinvestitionen braucht». So könnte er Mehmet Şimşek, den früherenWirtschaftsminister zurückholen, um «bei internationalen Partnern Vertrauen zu schaffen». (MS wurde inzwischen zum neuen Finanzminister ernannt.)
Im Ukrainekrieg gelingt Erdoğan, so Thumann, eine erfolgreiche Balance zwischen dem Westen und Russland, und stehe «nach wie vor ziemlich gut da als ein möglicher Vermittler mit dem Vorteil, Anrainer-Staat und NATO-Mitglied zu sein», ohne an westlichen Sanktionen gegen Russland teilzunehmen. Sein Veto gegen den schwedischen NATO-Beitritt wird er wohl für die Freigabe von F-16 Flugzeugen aufgeben. So wird er sich dem Westen weiterhin als nützlicher Partner für die regionale Stabilität anbiedern. Bundeskanzler Scholz hat ihm ja nicht nur gratuliert, sondern ihn auch noch nach Berlin eingeladen. Diese positive Haltung schaffe aber, so Aksoy, ein «wahnsinnig schlechtes Gefühl bei den oppositionellen liberalen Kräften in der Türkei, die sind noch antiwestlicher geworden, die glauben tatsächlich, dass die EU den Machterhalt von Erdoğan wollte». Erdoğan garantiere nicht Stabilität, und «eine instabile Türkei ist nicht im Interesse Europas».
Journal 21 publiziert diesen Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Podcast-Projekt «Debatte zu dritt» von Tim Guldimann.