Die Leserschaft kennt die Solveig VII samt Kapitän, Matrosin und Schiffshund. Auch diese neue Fahrt verbindet die Erkundung einer Flusslandschaft mit Begegnungen und Gedanken.
Der Neckar, so lese ich im Schiffsführer, soll seinen Namen aus dem Keltischen haben: «Die Wilde». Wer heute auf dem Land oder auf dem Wasser durchs Neckartal fährt, dem muss dieser Name seltsam vorkommen. Friedlich windet sich der Fluss durch das kurvenreiche Tal mit seinen romantischen Städtchen und den unzähligen stolzen Burgen, welche an den steilen Talflanken zu kleben scheinen.
Hochwasser
Das war vor hundert Jahren noch ganz anders. Manchmal ahnt man allerdings das wilde Temperament des Flusses noch. Als die Solveig VII letzte Woche, zuerst wegen starkem Regen, später wegen Hochwasser, in Heidelberg festsass, stieg der Pegel in einer einzigen Nacht um einen halben Meter. Als wir am Morgen zum Neuenheimer Ufer hinüberschauten, zog da, wo vorher eine fast bewegungslose, klare Wasserfläche gelegen hatte, mit imposanter Geschwindigkeit eine trübe Brühe von der Karl-Theodor-Brücke talabwärts, viel Zivilisationsmüll und ganze Baumstämme mit sich führend.
Es gibt schlimmere Orte zum Warten als Heidelberg. In der Altstadt kann man trotz Touristenflut noch immer viele lauschige Winkel entdecken. Doch unsere Hündin Zora zog es eher zur andern Talseite. Auf dem Philosophenweg wanderten wir zum Heiligenberg hinauf, vorbei am altehrwürdigen Physikalischen Institut, wo ich vor bald dreissig Jahren zu einem Vortrag geladen war, der mir aus einem speziellen Grund in ewiger Erinnerung geblieben ist.
Ein unvergessliches Datum
Auf der Rückreise am nächsten Tag nämlich, es war der 1. November 1986, hatten die Zöllner an der Basler Grenze Schutzmasken umgehängt. In der Nacht zuvor hatte in Schweizerhalle eine mit Chemikalien gefüllte Lagerhalle gebrannt. Dass sich die dadurch ausgelöste Umweltkatastrophe tatsächlich nicht in der Luft, sondern – wegen des Löschwassers – im Rhein abspielen würde, hatten einzig die Spezialisten von Greenpeace vorausgesehen und rechtzeitig Wasserproben genommen.
Tatsächlich mussten damals diverse französische und deutsche Trinkwasserwerke am Rhein wegen des mit Pestiziden verschmutzten Wassers ihre Anlagen für einige Tage vorsorglich ausser Betrieb nehmen, während sich die Luftbelastung nachträglich als harmlos herausstellte. – Die Betriebsblindheit von Spezialisten gäbe Stoff für einen andern Artikel; darum zurück zum Neckar.
Schiffbar auf fast 200 Kilometern
Der Neckar beginnt seinen Lauf bei Schwenningen im Schwarzwald wenige Kilometer nördlich von Donaueschingen, wo ihrerseits die Donau entspringt. Wie verschieden ist doch das weitere Schicksal der beiden Flüsse! Der Neckar mündet, an berühmten deutschen Städten wie Tübingen, Stuttgart und Heidelberg vorbeifliessend, nach 370 Kilometern bei Ludwigshafen in den Rhein; sein Wasser gelangt somit in die Nordsee, während das Donauwasser im Schwarzen Meer endet.
Der Ausbau des Neckars zum schiffbaren Fluss begann 1921, vorerst bis Heilbronn, ab 1948 Richtung Stuttgart. Seit 1968 sind zwischen dem Rhein und Plochingen östlich von Stuttgart (bei Flusskilometer 201) 27 Schleusen im Betrieb. Von der gesamten Länge des Neckars sind also etwas mehr als die Hälfte schiffbar. Insgesamt wird zwischen dem Rhein und Plochingen ein Höhenunterschied von rund 160 m überwunden. Die mit den Schleusen verbundenen Wehre dienen einerseits der Energiegewinnung, andererseits garantiert die Kette von Stauhaltungen der Schifffahrt auch bei Niedrigwasser minimale Tiefen.
Nicht endgültig gezähmt
Wer heute durch das untere Neckartal reist, blickt auf eine Reihe von oft spiegelglatten Seen, welche zwischen waldigen Berghängen und Rebbergen eingebettet sind und kaum noch an die Wildheit und Unberechenbarkeit erinnern, welche einst dem Fluss seinen Namen gegeben hatten. Doch auch der Neckar liess sich, wie andere von Menschenhand veränderte Flusssysteme, nicht ganz bezwingen. Markierungen an flussnahen Häusern und Dämme bei Siedlungen erinnern daran, dass sich der Neckar gelegentlich an seine wilde Natur erinnert.
Der diesjährige extrem nasse August mahnt uns ein bisschen daran. Ein erstes Mal erlebten wir das schnelle Anschwellen des Flusses vor einer Woche in Heidelberg, als die Wasserstrasse wegen Hochwasser gesperrt werden musste. Extremer noch war die Situation am vergangenen Sonntag. Wir hatten uns am Vortag im Oberwasser der Stauhaltung Lauffen in Erwartung der angesagten Regenfront an einem malerischen Ort am Fuss eines Rebberges an Land gelegt.
Als wir die Niederschlagsfront hinter uns wähnten und die Schleusen bestätigten, die Schifffahrt sei im Moment frei („noch“, fügte der Beamte vorsichtshalber bei), machten wir uns flussaufwärts Richtung Marbach auf den Weg bzw. auf den Fluss. Doch es regnete weiter in Strömen. Die Matrosin der Solveig liess sich deswegen in den Schleusen von ihrer Arbeit mit den Leinen nicht ablenken, aber der Kapitän kämpfte gegen eine schnell ansteigende braune Brühe, welche stellenweise riesige Felder von Ästen, ja ganzen Baumstämmen mit sich führte, so dass er zeitweise um das Überleben der Schiffsschraube bangte.
Landgang nach Marbach
Schliesslich fanden wir in Benningen eine sichere Anlegestelle an einem sogenannten Schwimmsteg, der wegen seiner vertikalen Beweglichkeit im Gegensatz zu festen Quais Sicherheit gegen einen schnellen Anstieg des Flusspegels bietet, wanderten einige Kilometer flussaufwärts nach Marbach, vorbei an der Mündung der Murr, eines kleinen Nebenflusses aus dem Schwäbisch-Fränkischen Wald, der mit hohen Wellen in den Neckar mündete und diesen mit seiner geballten Ladung an Schwemmholz zu blockieren schien.
Wir waren froh, unsere Solveig unterhalb dieser heiklen Stelle in Sicherheit zu wissen, genossen in Marbach ein ausgiebiges Nachtessen, wanderten bei einfallender Dunkelheit zurück zum Schiff und legten uns getrost ins Bett. Nachts vergewisserte ich mich gelegentlich mit einem Blick durch das Bullauge, ob der Kran an der Kiesverladestelle am gegenüberliegenden Ufer noch immer am gleichen Ort sei. Im Lichte einer einsamen Strassenlampe sah ich das Wasser immer rascher vorbeifliessen. Das leise Quietschen der Taue zeugte zugleich von den Kräften des Flusses als auch der Zuverlässigkeit unserer Belegung, wie es im Schifferlatein für das Anbinden eines Schiffes heisst.
Am nächsten Tag schien die grösste Flut vorbei und wir setzten uns mutig flussaufwärts in Bewegung, nicht ohne vorher via Internet die Pegel abgefragt und die nächste Schleuse kontaktiert zu haben. Wiederum machten uns Schwemmholz und Baumstämme das Leben schwer, speziell unterhalb der Wehre, welche über Nacht ihre Schleusen geöffnet hatten. Dafür waren an diesem Morgen die Schleusenwärter besonders freundlich, hatten bei unserer Ankunft die Schleusentore immer schon weit offen, das Signal auf grün gestellt und wünschten uns betont eine gute und sichere Weiterreise. Bis nachmittags gegen vier Uhr waren wir offenbar das einzige Schiff unterwegs zwischen Marbach und Stuttgart.
Schönster Fluss Europas
Soviel zum wilden Neckar, obschon seine Wildheit im Vergleich zur Zeit vor hundert Jahren wohl nur noch ein harmloser Abklatsch ist. Doch die Zähmung des Neckars durch die Wehre konnte die Faszination nicht zerstören, die heute wie früher von diesem Fluss ausgeht. Mark Twain, der bekanntlich als Lotse die amerikanischen Flüsse befahren und später ausgiebig Europa bereist hatte, soll gesagt haben, wer den schönsten Fluss Europas kennenlernen wolle, müsse auf einem Floss den Neckar hinunterfahren.
Was macht diesen Fluss so speziell, und wieso verbinden sich mit ihm, zumindest für den Schweizer, die besten Eigenschaften Deutschlands? – Es sind zum einen die vielen Stätten der Erinnerung an das kulturelle Erbe der deutschen Lande, die auch diejenigen der Schweizer sind: das alte Heidelberg mit seiner Universität, die vielen Burgen entlang des Tals, von denen man manchmal gleichzeitig vier oder mehr sehen kann, die Burg Zwingenberg zum Beispiel, über der Wolfsschlucht thronend, welche Carl Maria von Weber für seinen «Freischütz» Modell gestanden haben soll, die Burg Hornberg ob Hassmersheim, wo Götz von Berlichingen, der Ritter mit der eisernen Faust, gewohnt hat und später dorthin verbannt worden ist, Heilbronn und sein berühmtes Käthchen, Marbach mit Schillers Geburtshaus.
Das alles ist dem Schweizer näher als die norddeutsche Tiefebene, als das pompöse Berlin oder das oft in einen allzu aufdringlichen Heimatstil abgleitende Bayern, näher als der sich durch das deutsche Mittelgebirge ziehende Rhein, auch er für den Schweizer eine Nummer zu gross, die Musik Wagners anklingen lassend, nicht die romantische Leichtigkeit eines Weber.
Rebellischer Dialekt
Als wir vor ein paar Tagen im Hafen des Motor-Yacht-Club Neckar vis-à-vis der Burg Zwingenberg im Clublokal bei Bier und Wein mit zwei Einheimischen ins Gespräch kamen, LKW-Fahrer aus einem nahen Dorf, und sie nach einem Hundespaziergang für den nächsten Tag fragten, mussten wir uns mühsam in den seltsamen Dialekt hineinhören, der uns in der Urtümlichkeit der meist verkürzten und seltsam verformten Wörter an das Wallis oder Berner Oberland erinnerte. Zwar gehört diese Gegend zu Baden, aber wie anders tönt ihr Dialekt als das vertraute Alemannisch des Wiesentalers ganz im Süden des Landes.
Es sei Kurpfälzisch, erklärte der eine, und fügte fast trutzig bei, er weigere sich die konfektionierte Sprache der Norddeutschen zu sprechen und rede mit allen Leuten so. Sie sollten selber schauen, dass sie ihn verstünden. Leider würden die Dialekte immer mehr verschwinden, gegen das wolle er ankämpfen. Dann setzte er die Beschreibung des vorgeschlagenen Spaziergang fort, sprach von «nuff» und «löffen» und fügte schliesslich, als sein Kollege meinte, mit dieser Wegbeschreibung würden sich die Schweizer Freunde bestimmt im Walde verlaufen, in allem Ernst bei, er sei auch bei der lokalen Feuerwehr und gebe uns seine Handynummer; er würde uns jederzeit suchen kommen, falls es nötig sein sollte.
Ganz stark erinnerte mich dieses rebellische Aufbegehren gegen die Zentralgewalt an die lieben, treuen Eidgenossen zuhause und daran, was uns an sprachlicher und menschlicher Differenziertheit alles durch die Latten geht, wenn wir, in letzter Zeit meistens mit einem negativen Unterton, von «den Deutschen» sprechen. Wahrscheinlich gibt es ihn, den Deutschen, genau so wenig wie «den Schweizer», vielleicht sind der Neckar und seine Bewohner genauso speziell wie die Birs, die Töss oder die Sense.
PS: Mit diesem Beitrag enden – zumindest für dieses Jahr – die Berichte vom Reisen auf dem Wasser. Die Solveig VII kommt in Frankfurt in ihr Winterlager, und ihr Kapitän bedankt sich für die vielen aufmunternden Reaktionen.