Nicolas Sarkozys Umfragewerte sind 90 Tage vor dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl schlecht wie eh und je in den letzten zwei Jahren und die Nervosität im konservativen Lager nimmt spürbar zu. Währenddessen hat François Hollande, der sozialistische Kandidat, an diesem Wochenende die heisse Phase seines Wahlkampfs eingeläutet.
Er sah letzte Woche schlecht aus, der Präsident - aschfahl, müde und gezeichnet erschien er in der spanischen Hauptstadt. Selbst das mühsam unterdrückte Zucken des Körpers, das aussieht, als hätte er die falsche Unterwäsche an oder als würde ihn der dunkle Anzug kratzen, war wieder da, wie in den ersten Monaten seiner Regentschaft - als sich alle Welt fragte: Was hat der Mann nur, warum hampelt er so, geht es ihm nicht gut?
Bohrende Frage
Dabei hatte Nicolas Sarkozy am Donnerstag im verregneten Madrid doch gerade eben erst von König Juan Carlos persönlich den höchsten Orden Spaniens für Frankreichs untadeligen Beitrag zur Bekämpfung der baskischen ETA verliehen bekommen. Doch dann schien es ihm ganz und gar nicht zu passen, dass er nach dieser prunkvollen Ordensverleihung und einem Gespräch mit dem neuen spanischen Regierungschef noch zu einer Pressekonferenz antreten musste und dort zum Verlust der französischen Topbonität durch die Ratingagentur Standard and Poor's befragt wurde. Wenn man ihm bitte eine verständliche Frage stellen könnte, dann würde er auch darauf antworten, raunzte der zuckende Präsident in Richtung des fragenden Journalisten, der die Frage brav neu formulierte. Drei Mal flog der Ball wie beim Pingpong hin und her, in der dicken Luft des Pressekonferenzraums knisterte es gewaltig und der Präsident sah so aus, als wolle er buchstäblich aus der Haut fahren und umgehend den Saal verlassen.
Endzeitstimmung im Elysée ?
Dies ist nur eines von vielen Beispielen in diesen Tagen und Wochen, die zeigen, dass im Elyseepalast die Nerven blank liegen. Verlust der Topbonität, Korruptions- und Abhöraffären, die dem Staatspräsidenten gefährlich nahe kommen, die Ermordung von vier französischen Soldaten durch ein Mitglied der afghanischen Streitkräfte, wodurch die Präsenz französischer Soldaten vor Ort erneut in Frage gestellt ist, und schliesslich die AIDS-Stiftung von Ehefrau Carla, deren Finanzgebahren jüngst in Verruf geraten ist - kein Wunder, dass der nervöse Präsident dieser Tage noch ein Stück nervöser daherkommt.
Noch 90 Tage sind es bis zur Wahl, und Nicolas Sarkozy, der noch nicht erklärte Kandidat, kommt, so umtriebig er sich in den letzten Wochen auch wieder zeigen mag, aus dem chronischen Popularitätstief einfach nicht heraus: 23 Prozent im ersten Wahlgang gegen 30 Prozent für den sozialistischen Widersacher, François Hollande - so die letzte Meinungumfrage - und Rechtsaussen Marine Le Pen ist dem Präsidenten mit 21 Prozent allzu dicht auf den Fersen. Für die Stichwahl am 6. Mai lautet die Prognose: Hollande 57 Prozent, Sarkozy 43 Prozent - vor 5 Jahren war Nicolas Sarkozy nach dem 14. Januar und seiner ersten grossen Wahlkampfrede in den Umfragen an der Sozialistin Ségolène Royal vorbeigezogen und ab diesem Moment bis zur Wahl mit 52 bis 53 Prozent an der Spitze geblieben.
Der Hofstaat des monarchischen Präsidenten beginnt sich langsam ernsthafte Sorgen zu machen und entdeckt bei seinem sonst wie unter Strom stehenden Herrscher plötzlich Spuren von Mutlosigkeit und Müdigkeit.
Sollte vielleicht auch seinen vehementesten Stiefelleckern aufgefallen sein, dass die Karten ausgereizt sind, dass die immer gleichen Formeln nicht mehr ziehen und mittlerweile fast jedem im Land bewusst ist, dass in diesen Monaten ein fünfjähriges Präsidentschaftsmandat zu Ende geht, in dessen Verlauf vor allem so getan wurde, als würde gehandelt, de facto aber vor allem viel geredet und Schaum geschlagen wurde?
Rezepte wirken nicht mehr
Wenn der Präsident, wie jüngst, nach einer weiteren Schiesserei unter Drogendealern in den Vorstadtghettos von Marseille oder Paris zum 15. Mal mit den immer gleichen Worten martialisch erklärt, Frankreich befinde sich im „Krieg“ gegen die Drogenkriminalität, man habe den Dealern den „Krieg“ erklärt, man werde den „Krieg" gewinnen - gleichzeitig aber die Situation heute keinen Deut besser als vor 5 Jahren ist, eher im Gegenteil – dann wendet sich der Zuhörer inzwischen achselzuckend und resigniert ab und hält derartige Auftritte des Präsidenten zurecht für nichts anderes als verbale Kraftmeierei.
Nicolas Sarkozy steht reichlich hilflos da und scheint sich zu wundern, dass seine Rezepte nicht mehr anschlagen, und verzweifelt darüber, dass niemandem in seiner Umgebung mehr etwas Neues einfällt.
Sarkozys Ärmelaufkrempeln und Zupacken, sein immer wieder beschworenes „schnelles Handeln“, sein Vortäuschen, der präsidiale Wille allein könne Berge versetzen - all dies ist definitiv als purer Aktionismus enttarnt, der so gut wie nie konkrete Veränderungen nach sich gezogen hat. Emblematisch für diese Attitude war Sarkozys Satz aus dem Jahr 2009 nach dem G20-Gipfel in London, als er erklärte, Steuerparadiese gäbe es von nun an nicht mehr, das Problem sei geregelt – als hätte er allein per Handstreich eine Lösung gefunden und das Thema vom Tisch gebracht.
Auch die Manie des Präsidenten, zu fast jedem Problem ein grosses, angeblich alles entscheidendes Gipfeltreffen einzuberufen, zieht nicht mehr. Zu oft ist in der Ära Sarkozy hinterher klar geworden, dass derartige Gipfel rein gar nichts zur Lösung eines Problems beigetragen haben. Letztes Beispiel: der sogenannte „ Sozialgipfel“ letzten Mittwoch, der nach Frankreichs Herabstufung durch Standard and Poor's noch schnell zum Krisengipfel umgetauft wurde. Von vornherein war klar, dass auf diesem Gipfel nicht wirklich etwas diskutiert wird, sondern dass die geladenen Gäste - Vetreter von Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbänden – unter den goldenen Stuckdecken der Republik zu Statisten eines Spektakels degradiert waren.
Da die Gewerkschaftsvorsitzenden dieses Prozedere am Morgen des Gipfels als Gäste verschiedener Radiosendungen auch laut und deutlich anprangern wollten, hat der Elysee im allerletzten Moment den Beginn des Krisengipfels auf 8 Uhr 30 vorverlegt, damit die Gewerkschafter in den Radios nicht zu Wort kommen konnten. Ein Vorgehen, das an einen Ertrinkenden erinnert, der zu den allerletzten Mitteln greift.
Der eine im Dschungel – der andere auf der Wahlkampfbühne
Das Wochenende verbrachte der Präsident in Französisch-Guyana, von wo aus Europas Satelliten ins All befördert werden und wo man Nicolas Sarkozy im Anzug mit Krawatte und Lederschuhen in einem Boot durch den Urwald schippern sah – neben der weit von ihm abgerückten Umweltministerin sitzend. Auch sie muss in diesem Moment daran gedacht haben, dass es ein ähnliches Bild vor etwas mehr als fünf Jahren schon einmal gegeben hat, nur dass an ihrer Stelle damals Sarkozys Ex- Ehefrau Cecilia sass, dass deren Noch-Ehemann damals noch nicht Präsident, sondern nur Wahlkämpfer war und die Schiffsfahrt vor Dutzenden Kameras inszeniert hatte, um der Öffentlichkeit zu zeigen: Meine Frau, die mich verlassen hatte, ist wieder zurückgekehrt. Bekanntermassen hat die Aussage dieser Bilder der Realität dann nicht lange standgehalten.
Kaum war Nicolas Sarkozy an diesem Wochenende in Guyana eingetroffen, kamen bei einer Schiesserei zwischen illegalen Goldgräbern im Dschungel des Überseedepartements neun Menschen ums Leben. Sofort kündigt der Präsident in gewohnt martialischem Tonfall an, man werde sich verstärkt um die Bekämpfung des illegalen Goldschürfens kümmern. 60 zusätzlichen Gendarmen würden dafür abbestellt. Doch es ist, als würde dem Präsidenten niemand mehr abnehmen, dass er selbst glaubt, derartige Ankündigungen könnten am seit Jahren herrschenden Chaos im französischen Dschungel Guyanas de facto etwas ändern - so ausgelaugt, ja, so machtlos wirkt er letztendlich dabei.
François Hollande im Aufwind
Während der bei der kleinsten Gelegenheit ins Schwitzen geratende Präsident im tropischen Klima Guyanas heftig litt, hatte François Hollande im Pariser Vorort Le Bourget seinen ersten grossen Wahlkampfauftritt und verdrängte damit den Präsidenten aus den Schlagzeilen: 20 000 Anhänger füllten die Ausstellungshalle, Frankreichs beliebtester Franzose, Ex-Tennisstar und Sänger Yannick Noah heizte den Saal an, Vertreter aus Kultur und Showbuiseness sassen in den ersten Reihen neben der sozialistischen Prominenz, und Mazarine Pingeot, die ihrem Vater unglaublich ähnlich sieht, verkörperte das Bindeglied zur Ära Francois Mitterrand.
Hollandes Auftritt war professionell inszeniert. Auch wenn der sozialistische Kandidat keine Bäume ausgerissen hat, war es doch eine relativ ehrlich wirkende, engagierte, eineinhalbstündige Auftaktrede, die trotz Krisensituation etwas Beflügelndes hatte und mit der berühmten Anlehnung an John F. Kennedy endete, mit dem Satz: "Fragt Euch nicht, was die Republik für Euch tun kann, sondern was Ihr für die Republik tun könnt."
Angesichts der 5-jährigen Präsidentschaft Sarkozys, die der Republik und ihren Grundwerten wie Freiheit und Gleichheit nichts Gutes getan hat und angesichts der Gefahr von der rechtsextremen Seite mit Marine Le Pen ist dies ein Satz, der heute in Frankreich nicht nur seine Berechtigung hat, sondern eine ganz besondere Bedeutung bekommt. Denn dieser Republik muss in der Tat dringend neues Leben eingehaucht werden. Manchmal kam es einem in den letzten Jahren sogar vor, als müsse sie engagierter, als dies heute der Fall ist, verteidigt werden.
Viele Franzosen, die auf keinen Fall bereit sind, Nicolas Sarkozy oder Marine Le Pen zu wählen, dürften sich nach dieser Rede des sozialistischen Kandidaten sagen: Dieser François Hollande würde im Fall eines Wahlsiegs zwar keine Wunder bewirken, aber er würde zumindest die Grundprinzipien der Republik wieder ein wenig mehr respektieren, die Franzosen nicht mehr gegeneinander aufhetzen – wie das Nicolas Sarkozy jahrelang intensiv getan hat - und man würde sich als Franzose zumindest im Ausland nicht mehr für seinen Präsidenten schämen müssen. François Hollande könnte, wie er dies einst selbst gesagt hat, einfach ein normaler Präsident werden. Dies allein bedeutete vielen Franzosen schon viel.