Wer zahlt schon gerne Steuern? Nicht viele Mitbürger hierzulande sind wohl so abgeklärt wie der Publizist Rolf Dobelli, der in einem seiner philosophischen Essays in der NZZ unlängst meinte, eigentlich müssten alle Landsleute angesichts des unverdienten Glücks, in einem so gut und solide funktionierenden Land wie der Schweiz zu leben, mit Freude und Dankbarkeit ihre Steuern bezahlen.
Irreführende Tax-Freedom-Rhetorik
Die Verfechter der Tax-Freedom-Rhetorik gehören kaum zu dieser Spezies. Deren Vertreter wie etwa der Bund der deutschen Steuerzahler (BdSt) rechnen aus, ab welchem Tag im Jahr ein durchschnittlicher Steuerzahler kein Geld mehr für die Begleichung von staatlichen „Zwangsabgaben“ verdienen muss. In Deutschland fiel dieser Tag im laufenden Jahr gemäss diesem Kalkül auf den 19. Juli. In der Schweiz kam man laut Berechnung von Avenir Suisse im Jahre 2015 auf den 10. Juli.
Dazu muss zunächst betont werden, dass es sich um völlig scheinexakte Zahlen handelt. So werden neben den sogenannten Zwangsabgaben beim BdST etwa auch die Gebühren für die staatlich konzessionierten Strom- und Wasserwerke sowie die Rundfunk-Beiträge mitberechnet. Als ob Strom-, Wasser- und Rundfunk-Bezüge von rein privaten Produzenten völlig kostenlos wären!
Irreführend ist die Zwangsabgaben-Rhetorik aber vor allem aus zwei Gründen. Erstens suggeriert diese Wortwahl, dass es sich bei den Steuerforderungen an den Bürger um willkürlich erhobene Abgaben seitens eines selbstherrlichen Staates handle. Dass die Steuergesetze aber nach demokratisch vereinbarten Regeln von gewählten Parlamenten und Regierungen – in der Schweiz häufig auch durch direkte Volksabstimmungen – beschlossen werden, wird grosszügig verdrängt.
Ausgeblendet wird von der Zwangsabgaben-Rhetorik zweitens eine ernsthafte Diskussion über die staatlichen Gegenleistungen, die der Steuerzahler für seine Abgaben bekommt. Oder soll man glauben, dass es bei einer radikalen Steuersenkung in unserem Land ebenso gut funktionierende öffentliche Schulen, ein verlässliches Rechtssystem, eine effiziente Verwaltung, ein dicht ausgebautes öffentliches Verkehrswesen, ein weitgehend intaktes Sozialleistungssystem und einigermassen stabilen innenpolitischen Frieden geben würde?
Hat Amerika es besser?
In den USA soll der Tax Freedom Day für den Durchschnittsbürger laut den erwähnten fragwürdigen Berechnungsmethoden schon ab Anfang April beginnen. Aber bei allem Interesse für amerikanische Lebensverhältnisse – wie viele Schweizer oder Deutsche würden heute wohl behaupten, dort sei das Leben allgemein besser, angenehmer und sicherer als in ihrer jetzigen Heimat?
Staatliche Zwangsabgaben gibt es in jenen Ländern nicht, in denen es keine staatliche Ordnung mehr gibt und Anarchie herrscht. In solchen Ländern würde dann der Tax Freedom Day auf den ersten Januar fallen. Schon dieser Hinweis zeigt die löcherige Logik dieser Rhetorik. Mit einigem Recht aber kann man die staatlichen Steuern als Zwangsabgaben in jenen Ländern bezeichnen, in denen ohne echte demokratische Mechanismen (von China über Russland bis Kuba) über deren Umfang entschieden wird. Wer solche Unterschiede nicht erkennt, argumentiert nicht ehrlich.