Mit der schon üblichen helvetischen Verspätung hat nun auch die katholische Kirche der Schweiz ein Zwischenergebnis vorgelegt, wie es um den sexuellen Missbrauch in ihren Reihen aussieht. Selbst wer nach den bekannt gewordenen Fällen in den USA, in Irland und in Deutschland 20 Jahre Zeit hatte, kann sich an das Entsetzen, das sie auslösen, nicht gewöhnen.
Hier geht es nicht um theologische Spitzfindigkeiten, über die sich Gelehrte streiten mögen. Oder um kirchenpolitische Kontroversen, die das Kirchenvolk nicht allzu sehr berühren. Der Missbrauch zielt ganz wörtlich auf das nackte Leben, das niemanden gleichgültig lässt. Erst recht nicht die 921 nachweislich Betroffenen (von 1950 bis heute), hinter denen eine Unzahl anonymer Opfer steht.
Ob irgendwann jene Aufarbeitung gelingt, welche die Bischöfe nun reumütig versprechen, ist schwer zu glauben. Zu tief ist der Missbrauch in den Strukturen der katholischen Kirche verwurzelt.
Ganz unmittelbar zur Debatte steht erstens die katholische Sexualmoral. Dass Gebote nicht eingehalten werden, entspricht der Condition humaine. Das Drama besteht darin, dass eine Moral propagiert wird, die nicht lebbar und letztlich unmenschlich ist. Alles, was mit Sexualität zu tun hat, ist Sünde: dieses manichäische Erbe hat der Kirchenvater Augustinus den Christen hinterlassen. Das Gute soll man vom Bösen scheiden wie das Licht von der Finsternis, den Geist von der Materie, die Seele vom Leib. Dieses schwere Erbe belastet die katholische Kirche bis heute, und auch Luther war ein Augustinermönch. Selbst in der Welt des Sports und der Körpertherapien ist ein Menschenbild anzutreffen, das säkulare Schatten des Augustinus enthält: Der träge Adam muss bezwungen und geschunden werden. Zur moralisierenden Enge der Leibwahrnehmung gehört der fehlende Respekt für Menschen mit homosexueller Veranlagung. Aber auch mit dem Gegenbild, dem Körperkult, gelingt eine Integration des Körperlichen mit dem Emotionalen und dem Geistigen ebenso wenig.
Dem gespaltenen Menschenbild der Sexualmoral entspricht zweitens ein gespaltenes Kirchenbild. Die Rede von der «heiligen Kirche» wirkt angesichts der nun auch wissenschaftlich belegten Realität gotteslästerlich. Nur steht das Heilige tatsächlich hinter den Missbräuchen: Der Täter ist ein Sünder, jeder einzelne eine Abirrung von der wahren Kirche. Deren Ruf rein zu erhalten, war allzu lange höchstes Gebot, die Täter schützte man, die Opfer kamen meist nicht einmal ins Blickfeld. Die Selbstverständlichkeit, mit der schematisch vom Menschen als Sünder gesprochen wird, verstellt die wirkliche Herausforderung der Kirche: nämlich eine fehlerfreundliche Gemeinschaft zu sein, die dem Täter in die Augen schaut und ihn mit der Tat konfrontiert. Mit Tabuisierungen überlässt man ihn seinem Unheil. Das Beschweigen verhindert die Aufarbeitung der Tat und jegliche Therapie. Selbst die Null-Toleranz ist letztlich eine hilflose Beschwörungsformel der vermeintlich Reinen und Guten. Solange Täter sich mit ihrer menschlichen Natur nicht versöhnen und gelernt haben, mit ihrem Schatten zu leben, zielen solche Gebote ins Leere.
Hinter dem gespaltenen Kirchenbild stehen drittens mächtige Strukturen. Zu nennen ist der Zölibat. Nicht dass er allein Ursache des Missbrauchs wäre. Aber er ist Ausdruck einer sexualfeindlichen Moral. Nur ein sexuell enthaltsamer Mensch kann ein würdiger Priester sein, ein aus dem Volk Herausgehobener, ein Heilsvermittler, ein Kleriker eben. Was immer er tut, wer möchte es wagen, ihm unliebsame Fragen zu stellen? Wer könnte einen aus diesem Stand gar anklagen! Die Aufteilung der Kirche in einen Stand der Auserwählten, die über Gott Bescheid wissen und darum befehlen können, und in einen Stand des gewöhnlichen Volkes, dessen höchste Tugend der Gehorsam ist, gehört zur Grundstruktur der katholischen Kirche. Und dieses Gefälle bedeutet Macht und wird nur zu oft zum Einfallstor für geistlichen und sexuellen Missbrauch.
Zu dieser Grundstruktur der Kirche gehört viertens der Ausschluss der Frauen vom priesterlichen Amt. Frauen gehören zum untergeordneten Stand. Sie sind für den Priester kein Gegenüber auf Augenhöhe. Das Zentrum der Kirche besetzt ein Männerbund mit eigenem Corpsgeist – und dies bleibt nicht ohne Konsequenzen für das Umfeld. Doch wehe, wenn diese Männer mit ihrer Triebnatur nicht ins Reine kommen. Auch da ist der sexuelle Missbrauch nahe.
Ein Kennzeichen dieser männlichen Hierarchie sind fünftens fehlende Mechanismen der Machtkontrolle. Der Chef gibt sich selbst die Norm des Handelns und ist selbst derjenige, der deren Einhaltung kontrolliert. Abstrakter formuliert: Die ausführende Macht ist zugleich die gesetzgebende und die richterliche Gewalt. So hat ein Konzil im 19. Jahrhundert den Papst definiert, dasselbe gilt sinngemäss von jedem Bischof. Die gegenseitige Kontrolle der Gewalten im Staat sucht vergeblich ihresgleichen in der Kirche. Es spottet jeder Rechtsstaatlichkeit, wenn Bischof Joseph Bonnemain vom Vatikan beauftragt wird, zu untersuchen, ob und wieweit seine bischöflichen Mitbrüder sexuelle Missbrauchstäter unter ihren Priestern geschützt und vor Strafe verschont haben. Verständlich, dass er bei der Medienkonferenz bekennt, dass es ihm unwohl sei bei der Kumulierung von so viel Macht. Nun ist ja eine Bischofsernennung keine Geiselnahme. Aber zu viel Macht führt unweigerlich zu Widersprüchen: Bischof Bonnemain lässt sich im Sonntagsblick mit dem Ausspruch zitieren: «Wir müssen alles ans Licht bringen!»; drei Tage zuvor hat er den Seelsorgerinnen und Seelsorgern von Effretikon einen Maulkorb umgelegt, weil er nicht will, dass unbequeme Dinge an die Öffentlichkeit gelangen. Wenn er mit dem Rücken zur Wand steht, votiert er im Fall der Aktenvernichtung gegen die Einhaltung römischer Normen, dort aber, wo liturgische Kreativität erwünscht ist, bricht er im Namen solcher römischer Normen über eine bewährte Gemeindeleiterin den Stab.
Und nun stelle man sich vor, der von Bischof Bonnemain bei der Medienkonferenz dringend geforderte Kulturwandel würde die fünf genannten Faktoren in nützlicher Zeit beseitigen. Das wird auch dann nicht der Fall sein, wenn nach ein oder zwei Generationen im fernen Sibirien die letzte Diözese der Weltkirche zu ihren Missbrauchsopfern steht, die Täter in die Wüste schickt und die Bischöfe, die systematisch weggeschaut oder alles vertuscht und bagatellisiert haben, in der Altersbetreuung verpflichtet.
Handeln muss man trotzdem, denn selbst ein Kulturwandel im Kleinen braucht seine Zeit.
- Gefordert sind in erster Linie die Bischöfe und Ordensoberen. Funktionierende Meldestellen sind ein erster Anfang, die sorgfältige Auswahl und Ausbildung der künftigen Priester sind unerlässlich, konsequente Schritte hin zu einem Kulturwandel bedeuten aber eine Knochenarbeit. Es ist schon ein überdeutliches Zeichen, dass Abt Peter von Sury vom Benediktiner-Kloster Mariastein vor seinem Auftritt in der Medienkonferenz alle seine Gewänder abgelegt hat.
- Gefordert sind zum Zweiten die Landeskirchen. Sie stellen das kirchliche Personal an und haben darum auch eine Aufsichtspflicht. Die dürften gerade auf dem Feld des sexuellen Missbrauchs viel entschiedener aus dem Schatten der Hierarchie hervortreten. Wenn schon der Klerus keine Gewaltenteilung kennt, wäre doch das Schweizer System der demokratisch bestellten Landeskirchen ein guter Ansatz dafür.
- Gefordert sind aber drittens auch die Verantwortlichen im Staat, vor allem die Kantone, welche die Religionshoheit innehaben. Sie haben viel zu lange den Kirchen Aufgaben übergeben, ohne sie angemessen zu beaufsichtigen. Sie gehen viel zu leichtfertig davon aus, dass das Kirchenrecht und die innerkirchliche Kontrolle genügen. Die Religion ist ohne Zweifel ein hohes Gut, aber sie bleibt auch immer eine gefährliche Versuchung. Das wissen wir inzwischen, genaues Hinschauen ist darum geboten. Kriminelles Handeln, und darum geht es beim sexuellen Missbrauch, gehört konsequent vor staatliche Gerichte.
«Nur eine gewaltfreie Kirche hat eine Daseinsberechtigung», sagte Bischof Joseph Bonnemain bei der Medienkonferenz. Da kann man ihm nur zustimmen. Sein Wort ins Ohr aller Geschändeten und vor die Augen derer, die eine Kirchenraison vertreten, die oft alles andere als gewaltfrei ist. Wer nach alldem den Mut hat, in der Kirche zu bleiben, wird sie ohnehin anderswo verorten als in der klerikalen Hierarchie.