Mutige Iranerinnen entledigen sich dieser Tage demonstrativ des Zwangskopftuchs. Doch dieses Bild soll aus der Öffentlichkeit verschwinden. Das verhasste Stück Stoff muss zurück auf die Frauenköpfe. Das ist das erklärte Ziel des neuen iranischen Polizeichefs.
Ahmad Reza Radan meint es ernst. Nur einen Tag nach seiner Ernennung zum Polizeichef des Iran wies die Justizbehörde des Landes alle Staatsanwälte an, unverzüglich gegen jene Frauen vorzugehen, die das Hijab-Gesetz missachten. Urteile sollen in Schnellverfahren folgen. Dazu wird eine lange Liste der Strafen aufgeführt, die verhängt werden sollen: Geldstrafen, Verbannung, Arbeits- bzw. Ausreiseverbot, Entlassung aus dem Staatsdienst, Verbot öffentlicher Aktivitäten, Beschlagnahme der entsprechenden Gegenstände, Schliessung des Betriebs und so weiter.
Eine orchestrierte Aktion
Am selben Tag meldete das Kommunikationsministerium, ab sofort würden biometrische Daten, die wegen solcher Verstösse erhoben wurden, unverzüglich weitergeleitet. Gleichzeitig strahlte das staatliche Fernsehen eine Rede Ali Khameneis über die Untrennbarkeit des Hijabs von der Islamischen Republik aus.
Diese orchestrierte Aktivität hat eine eindeutige Botschaft an die Frauen: Die Zeit der Duldung ist vorüber. Das verhasste Stück Stoff, dessen sich viele mutige Iranerinnen in den vergangenen drei Monaten entledigt hatten, muss zurück auf die Köpfe.
Der neue Polizeichef Radan ist der eigentliche Erfinder der berüchtigten «Gashte Ershad», der iranischen Sittenpolizei, die seit zwei Dekaden systematisch Frauen drangsaliert, demütigt und sogar tötet, wie der Fall Mahsa Amini der ganzen Welt gezeigt hat.
Nun ist Radan mit der ihm eigenen Brutalität an seine alte Wirkungsstätte zurückgekehrt. Er war schon einmal Polizeichef des Landes: 2009, auf dem Höhepunkt der Grünen Bewegung, als drei Millionen Menschen schweigend durch die Strassen Teherans marschierten, um gegen Wahlbetrug und die Wiederwahl Mahmoud Ahmadinedschads zu protestieren.
Damals demonstrierte Radan, wie hemmungslos und unbeeindruckt von der Grösse seiner Gegnerschaft er vorgehen kann. Bei der Niederschlagung der Proteste leistete er ganze Arbeit. Seine Bluttaten von einst sind bestens dokumentiert. Und Ali Khamenei will, dass er seine «Erfolge» von damals wiederholt. Bevor Radan Polizeichef wurde, agierte er als Revolutionsgardist jahrelang in den Provinzen Kurdistan und Belutschistan gegen die nationalen Minderheiten in diesen Grenzregionen.
Die Stadt der Bewegung
Radan stammt aus Isfahan. Sein fanatisch-blutiger Werdegang hatte stets etwas Missionarisches an sich, was dem besonderen Anspruch der Islamisten seiner Heimatstadt eigen ist.
Hier etablierte sich im Jahre 1501 der Schiismus als Staatsreligion. Hier entstand die schiitische Geistlichkeit und die Position der Grossayatollahs mit ihrem weltlichen Machtanspruch, die heute an ihrem Ziel angelangt sind. Die Verwobenheit der iranischen Identität mit dem Schiitentum, der erste mächtige Zentralstaat der Safawiden gegen die expandierenden sunnitischen Türken konstituierten sich hier. Isfahan war die Hauptstadt einer Weltbewegung.
Die Stadt strahlte immer ein städtisch-konservatives Flair aus, modern und traditionsbewusst zugleich. «Die halbe Welt», so reimt sich Isfahan im Persischen, und genau diesen Anspruch, dieses etwas übertriebene Selbstbewusstsein trifft man oft dort. Heute ist Isfahan nicht nur die Stadt einer Urananreicherungs-Anlage, sondern die Heimat vieler Kommandanten der Revolutionsgarden, die sich einer besonderen historischen Mission verpflichtet fühlen.
Ungewiss ist, ob Radan sich diesmal problemlos durchsetzen kann. Der Riss an der Spitze der Islamischen Republik ist unverkennbar, es knirscht im Innern. Ist er auch gefährlich? Ein Riss ist dann gefährlich, wenn er bei einem Verstärkungselement vorkommt und man durch ihn in das Innere einer Struktur hineinschauen kann, sagen Ingenieure. Dann ist die Konstruktion abbruchreif.
Das tragende Element
Ähnlich verhält es sich mit monolithischen Herrschaftssystemen. Oft genügt eine Rede, eine Bemerkung oder der Auftritt eines Funktionärs, um zu erahnen, ja, zu erfahren, wie es im Inneren der Formation aussieht. Das Signum muss aber, wie bei einem Bauwerk, von einem tragenden Element des Sicherheitsapparats kommen.
Hamid Abazari ist zweifellos ein solches. Geboren ist er vor 62 Jahren in einem Dorf am Persischen Golf. Schon im Teenageralter wurde er Wächter der Revolution, also ein Gardist. Und er stieg schnell auf, vor allem in der neu gegründeten Marine der Revolutionsgarden. In den ersten Jahren agierte er an seinem Geburtsort, dem strategisch wichtigen Persischen Golf. Es waren die Kriegsjahre mit dem Irak, und die Meeresenge von Hormoz galt damals als Nadelöhr der Welt-Energieversorgung. Abazaris schnelles Vorwärtskommen war praktisch vorprogrammiert.
Kaderschmiede der Garden
Lang ist die Liste seiner bisherigen Positionen in diesen vier Dekaden. Zuletzt war er elf Jahre lang Vizekommandeur der Imam-Hossein-Universität. Diese Militärhochschule ist Khameneis Lieblingseinrichtung. Pedantisch überwacht er ihr Lehrpersonal, alljährlich nimmt er an der Abschlussfeier der Absolventen teil und hält dort seine wichtigen Reden. Denn hier werden Kommandeure und Offiziere der Revolutionsgarden ausgebildet. Der Hochschule angeschlossen ist eine weitere Universität, an der Naturwissenschaft und Militärtechnik gelehrt wird.
Der Atomphysiker Mohsen Fakhrizadeh, der 2020 höchstwahrscheinlich vom israelischen Geheimdienst ermordet wurde, war der prominenteste Professor dieser Uni. Er galt als Vater des iranischen Atomprogramms, die US-Zeitschrift «Foreign Policy» zählte ihn zu den 500 mächtigsten Menschen der Welt.
Es wäre eine lange Geschichte, wollte man die Hürden beschreiben, bis jemand zu dieser Hochschule zugelassen wird. Kommandeur dieser Einrichtung zu sein, wie Hamid Abazari, dafür bedarf es einer besonderen Nähe zu Ali Khamenei.
Ein TV-Auftritt mit Folgen
Abazari, der als Brigadegeneral tituliert wird, hatte am 27. Dezember einen bemerkenswerten Aufritt im Regionalfernsehen der Provinz Mazandaran am Kaspischen Meer. Er redete lange über Widerstand, Ausdauer und die Notwendigkeit des Kampfes gegen «Unruhestifter und Konterrevolutionäre». Ausführlich beschrieb er die psychischen Schwierigkeiten dieses Kampfes.
Dann sagte er wörtlich: «Selbst ich als Kommandant weiss nicht, was morgen geschieht. Ich sah grosse Kommandeure, die nicht mehr wollten und konnten, sie waren wichtige Kriegsbefehlshaber, ich kannte sie aus dem Krieg sehr gut, und gerade diese wurden schwach und stellten sich gegen unsere Werte.»
Das Video dieses Auftritts sorgte in allen sozialen Medien augenblicklich für beispielloses Aufsehen. Kommentare und Ergänzungen liessen nicht lange auf sich warten. Die Revolutionsgarden mussten unverzüglich auf die Äusserung des Brigadegenerals reagieren; Verschweigen war zwecklos. Abazaris Rede war klar, ausführlich und gut dokumentiert. Dementieren war ebenso unmöglich wie ein persönlicher Angriff gegen den Kommandanten.
All das sei nicht die Position der Garden, es entspreche nicht der Wirklichkeit und sei nur eine persönliche Meinung von Abazari. Mit diesen dürren Zeilen glaubten die Garden allen Spekulationen über einen Riss in der Führung ein Ende gesetzt zu haben. Vergebens. Andere ähnliche Äusserungen von höchsten Stellen folgten.
Das Schweigen der Grossayatollahs
Einen Tag später kritisierte Gholamhossein Gheybparvar, der frühere Befehlshaber der Basij-Streitkräfte, «einige Eliten» dafür, dass sie immer noch über die Unruhen schwiegen. Man habe den Eindruck, dass sie die «islamische Revolution» schon aufgegeben hätten. «Wir leugnen nicht, dass wir wirtschaftliche Probleme, hohe Preise, Arbeitslosigkeit und andere Schwierigkeiten haben. Wir dürfen aber in dieser Situation keine Zweifel oder Schwäche zeigen», so der führende Gardist.
Anfang Dezember verbreitete die Hackergruppe Black Reward Dutzende Dateien exklusiver Sicherheitsbriefings, die für Hossein Salami, den Oberkommandanten der Revolutionsgarden, bestimmt waren. In einem dieser Dokumente heisst es, Revolutionsführer Ali Khamenei habe sich bei Gholam Ali Haddad-Adel beklagt, dass viele Eliten der islamischen Republik zu den Unruhen schwiegen. Haddad ist der Schwiegervater von Khameneis Lieblingssohn Mojtaba, der dem Vater folgen will.
Mit schweigender Elite meint Khamenei vor allem jene einflussreichen Geistlichen in Qom, dem Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit im Iran, die in den letzten 30 Jahren bedingungslos und felsenfest seine Herrschaft verteidigten, egal, was er tat. Wie zum Beispiel jene drei Grossayatollahs Makarem, Nuri Hamedani und Amoli, die stets alles guthiessen, was Khamenei anordnete. Vor den jüngsten Unruhen waren sie ständig in den Medien präsent. Diese Zeiten sind vorbei.
Die Proteste haben zwar ihre Heftigkeit inzwischen verloren, doch verschwinden werden sie nicht. Denn nichts hat sich an der Misere der Islamischen Republik geändert – weder an den diversen wirtschaftlichen und politischen Problemen des Landes noch an der Unfähigkeit der Mächtigen, eine Lösung dafür zu finden. Die Veränderungen der letzten drei Monaten sind irreversibel.
Mit freundlicher Genehmigung von iranjournal.org