Die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) wurde am vergangenen Wochenende an der Urne hochkant und flächendeckend verworfen. Nach der Volksabstimmung über eine 13. AHV-Rente vom März 2024 haben die Bürgerlichen im Bereich der Sozialversicherungen an der Urne eine weitere Niederlage erlitten.
Dass eine Gesetzesvorlage des Parlaments in einer Volksabstimmung derart deutlich Schiffbruch erleidet, kam in den letzten 25 Jahren nicht häufig vor. Von den rund achtzig Gesetzesvorlagen, gegen die das Referendum ergriffen wurde, wurden zwanzig abgelehnt. Nur in vier Fällen war die Ablehnung stärker als bei der jüngsten BVG-Abstimmung. In einem Fall handelte es sich ebenfalls um eine Reform des BVG, welche den Umwandlungssatz senken wollte (März 2010).
Wenig ausgeprägte regionale Gräben
Die BVG-Reform hatte zum Ziel, durch Senkung des Umwandlungssatzes die finanzielle Stabilität der Pensionskassen zu sichern und bisher gar nicht oder nur sehr eingeschränkt Versicherten (Teilzeit- und im Niedriglohnsektor Arbeitenden, v. a. Frauen) den Aufbau eines Rentenguthabens in der beruflichen Altersvorsorge zu ermöglichen. Nachdem ein Vorschlag der Sozialpartner von den Bürgerlichen im Parlament stark abgeändert wurde, ergriffen die Gewerkschaften und Linken das Referendum. Die Bürgerlichen, von der GLP bis zur SVP, unterstützten die Vorlage.
Die BVG-Reform wurde in der Volksabstimmung mit 67 Prozent Nein-Stimmen deutlich abgelehnt. In keinem einzigen Kanton fand sich eine zustimmende Mehrheit. Am stärksten verworfen wurde die Vorlage in den Kantonen Jura und Neuchâtel (je 77% Nein-Stimmen), am wenigsten stark im Kanton Zug (57% Nein-Stimmen).
Ein Blick auf die Sprachregionen zeigt einen mitteltiefen Graben: Die Romandie verwarf mit 74 Prozent Nein-Stimmen am stärksten, für die deutschsprachige Schweiz beträgt der Nein-Stimmenanteil 65 Prozent. Anders als bei früheren sozialpolitischen Volksabstimmungen verhielt sich diesmal die italienischsprachige Schweiz nicht wie die Romandie; sie lehnte die Vorlage mit 62 Prozent Nein-Stimmen am wenigsten stark ab.
Keinen statistischen Unterschied gibt es im Stimmverhalten zwischen den Städten und den ländlichen Gemeinden. Die Unterschiede in der Ablehnung werden durch die Zugehörigkeit zur Sprachregion bestimmt: So verwarfen die Städte in der Romandie mit 77 Prozent Nein-Stimmen, die ländlichen Gemeinden mit 74 Prozent. In der Deutschschweiz betragen die Nein-Stimmenanteile für die Städte und die ländlichen Gemeinden je 66 Prozent.
Auch SVP- und «Mitte»-Wählende mehrheitlich dagegen
Wenn ein Abstimmungsergebnis über ein linkes Referendum so deutlich ausfällt, können nicht nur Linke und Grüne gegen die Vorlage gestimmt haben. Wie schon bei der Abstimmung über die Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente strahlte das Anliegen weit ins bürgerliche Lager hinein. Die Nachbefragung von TA-Media bzw. der beiden Politologen Lucas Leemann und Fabio Wasserfallen ergab, dass rund siebzig Prozent der SVP-Anhänger und über sechzig Prozent der «Mitte»-Anhänger gegen die BVG-Reform gestimmt haben. Für die Sympathisant:innen der SP und der Grünen betragen die Nein-Stimmenanteile 84 bzw. 74 Prozent. Eine knappe Mehrheit für die Vorlage wurde einzig bei der GLP festgestellt. Da das statistische Vertrauensintervall der ausgewiesenen Werte relativ gross ist und je nach Variable variiert, sind diese Prozentzahlen jedoch mit Zurückhaltung zu interpretieren.
Überraschen mag der Befund, dass die Frauen der BVG-Reform kritischer gegenüberstanden als die Männer, sollten doch gerade die Frauen von der Reform profitieren: 71 Prozent der Frauen und 63 Prozent der Männer haben gemäss Umfrage Nein gestimmt. Mit Blick auf das Alter der Stimmenden fällt auf, dass die 18- bis 34-Jährigen am wenigsten stark verwarfen (zu 59%) und die 50–64-Jährigen am stärksten (73%). Kaum zu überraschen vermag, dass die Ablehnung der BVG-Reform bei den Stimmenden mit einem Haushaltseinkommen von über 16‘000 Fr. pro Monat am geringsten war (53% Nein-Stimmen); bei jenen mit einem Haushaltseinkommen in sämtlichen Klassen von weniger als 10‘000 Fr. bis weniger als 3‘000 Fr. war sie dagegen am höchsten (je rund 70% Nein-Stimmen).
Dieses Profil konnte grosso modo auch bei der Volksabstimmung über die 13. AHV-Rente festgestellt werden. Gemäss der Vox-Analyse von gfs.bern wurde die Vorlage damals nicht nur von SP- und Grünen-Sympathisant:innen angenommen (mit 89% bzw. 79%). Auch die «Mitte»-Wählenden sagten Ja (53%); bei den SVP-Wählenden betrug der Ja-Stimmenanteil 47 Prozent. Bei Stimmenden mit einem Haushaltseinkommen von über 11‘000 Fr. lag die Zustimmung zur 13. AHV-Rente bei 46 Prozent, bei jenen mit einem Haushaltseinkommen von unter 3‘000 Fr. bei 73 Prozent. Die Jüngeren (18–39-Jährigen) schliesslich lehnten eine 13. AHV-Rente knapp ab (mit 46% Ja-Stimmen), die 60–69-Jährigen nahmen sie zu 75 Prozent an.
Umwandlungssatzsenkung zum dritten Mal abgelehnt
Die verworfene BVG-Reform ist nach der Abstimmung über die 13. AHV-Rente vom März 2024 eine weitere Niederlage der Bürgerlichen im Bereich der Sozialversicherungen – neben der, gleichentags, klaren Verwerfung der Volksinitiative der Jungfreisinnigen für eine schrittweise Erhöhung des Rentenalters.
Die Senkung des Umwandlungssatzes wurde – nach Abstimmungen im März 2010 und September 2017 – nun bereits zum dritten Mal verworfen. Ob dies am vergangenen Wochenende hätte vermieden werden können, bleibt offen. Wohl wäre die Vorlage, welche die Sozialpartner 2017 im Auftrag des Bundesrates erarbeitet hatten und von diesem praktisch unverändert ans Parlament weitergeleitet wurde, sozial breiter abgestützt gewesen. Die Bürgerlichen im Parlament aber änderten die Vorlage so stark ab, dass die Gewerkschaften und Linken ausstiegen und den Vorschlag frontal und mit grosser Emotionalität angriffen. Wie schon bei der 13. AHV-Rente politisierte die bürgerliche Mehrheit im Parlament auf eine Weise, dass die Mehrheit der Stimmenden nicht überzeugt werden konnte.
Die Stimmenden nun als egoistisch oder als zu wenig kompetent zu beschimpfen, ist deplatziert. Besser wäre es, bei der Gesetzesarbeit nicht nur die parlamentarischen Mehrheiten im Auge zu behalten, sondern auch die Stimmbevölkerung. Dass es dazu auch die Mitarbeit der Linken braucht, ist nach den letzten Abstimmungen augenfällig. Die Linke, namentlich die Gewerkschaften, hat wiederholt gezeigt, dass sie im Bereich der Sozialversicherungen bei den Stimmberechtigten ein gewichtiges Machtwort sprechen können.
Stadt–Land-Graben bei der Biodiversitäts-Abstimmung
Dass die Linke aber nur in bestimmten Fällen über das rotgrüne Segment hinaus mobilisieren kann, zeigte sich ebenfalls sehr deutlich am vergangenen Abstimmungswochenende. Die Biodiversitäts-Initiative «Für die Zukunft unserer Natur und Landschaft», lanciert von Umweltverbänden, sah einen weitreichende Schutz von Landschaften, Ortsbildern und Naturdenkmälern vor und wurde vom Schweizerischen Bauernverband heftig bekämpft. Sie erhielt in der Volksabstimmung nur leicht mehr Zustimmung als die BVG-Reform (37% Ja-Stimmen).
Sehr ausgeprägt war das regionale Zustimmungsmuster. Weniger als 25 Prozent Ja-Stimmen erhielt die Biodiversitäts-Initiative in vier Innerschweizer Kantonen (SZ, NW, UR, OW). Angenommen wurde sie dagegen in den Kantonen Basel-Stadt (58%) und Genf (51%). Nach Sprachregionen zeigten sich kaum Abstimmungsgräben: Die italienisch- und deutschsprachige Schweiz stimmte mit 35 bzw. 36 Prozent zu, die Romandie mit vierzig Prozent.
28 Prozentpunkte tief war dagegen der Stadt–Land-Graben: Die Städte nahmen die Vorlage mit 54 Prozent an, bei den ländlichen Gemeinden war die Zustimmung nicht einmal halb so gross (26%).
Wenig überraschend sind die Befunde der Nachbefragung der beiden Politologen Lucas Leemann und Fabio Wasserfallen zur Biodiversitäts-Abstimmung: Am stärksten stimmten die Anhänger:innen der Grünen zu (81%), gefolgt von jenen der SP und der Grünliberalen (64% bzw. 56%). Am geringsten war der Zuspruch bei den Sympathisant:innen der SVP und FDP (14% bzw. 19%) sowie der «Mitte» (23%). Die Frauen stimmten stärker zu (40%) als die Männer (34%).
Link zu den Abstimmungsergebnissen des Bundesamtes für Statistik
Link zur Nachbefragung (LeeWas)