Welche Bücher möchten Sie schenken, welche möchten Sie selber lesen? Autorinnen und Autoren von Journal21.ch empfehlen Ihnen mehrere Werke.
- KLARA OBERMÜLLER EMPFIEHLT
Miklos Banffy: Siebenbürgen-Trilogie
Es gibt literarische Werke, deren Lektüre Geduld erfordert und uns im Gegenzug einzigartigen Genuss beschert. Ein solches Werk ist die Siebenbürgen-Trilogie des adeligen Grossgrundbesitzers und ehemaligen ungarischen Aussenministers Miklos Banffy. Es hat die letzten zehn Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Thema, geschrieben aus der Sicht eines Mannes, der um die Katastrophe weiss, der seine Protagonisten wie Schlafwandler entgegentaumeln. Banffy war ein grossartiger Beobachter. Er sah die Brüchigkeit hinter der Pracht der Bälle und Jagdgesellschaften. Er durchschaute die Eitelkeit seiner angeblich um das Wohl des Volkes besorgten Politikerkollegen. Und er hatte ein Auge für die Asymetrie der Geschlechter, zugleich aber ein tiefes Einfühlungsvermögen, wenn es um die ganz grosse Liebe ging. Vor allem aber verfügte er über eine Sprache, die, von Andreas Oplatka ausgezeichnet ins Deutsche übertragen, bis heute funkelt vor Präzision und das gesellschaftliche Treiben der Donaumonarchie ebenso lebendig werden lässt wie die Schönheiten der siebenbürgischen Heimat.
Zsolnay Wien, 2012–2015, 800 Seiten, 576 Seiten., 409 Seiten
Kim de l’Horizon: Blutbuch
Ein Enkel nimmt Abschied von seiner in die Demenz abgleitenden Grossmutter und kehrt dabei in Gedanken in die eigene Kindheit und Jugend zurück. Dies, kurz gefasst, der Inhalt von Kim de l’Horizons Roman «Blutbuch», der in diesem Herbst dank Deutschem und Schweizer Buchpreis hohe Aufmerksamkeit erlangt hat. Zu Recht und hoch verdient, wie ich finde. «Blutbuch» ist ein aussergewöhnliches Buch, und dies keineswegs nur der modisch hochgepuschten Gender-Thematik wegen. Es ist die Sprache, die diesen Roman einer nonbinären Existenz einzigartig macht. Kim de l’Horizon schreibt ein Deutsch, so unverbraucht, so neu und dabei so unheimlich treffend, dass man beim Lesen immer wieder staunend innehalten muss. Es ist ein Deutsch, das ebenso zärtlich wie drastisch sein kann, ein Deutsch, das seine Nähe zur Berner Mundart nie verleugnet und dem es in immer neuen Anläufen gelingt, die Nöte einer schwierigen Kindheit und die Probleme eines nicht minder komplizierten Erwachsenendaseins nachvollziehbar zu machen.
DuMont Köln, 2022, 336 Seiten
Simon Fröhling: Dürrst
Auch dieser Roman, Fröhlings zweiter, war für den Schweizer Buchpreis nominiert. Bekommen hat er ihn nicht, das Buch zu lesen lohnt sich allemal. Vordergründig erzählt der Autor von seiner Krankheit, einer bipolaren Störung. Er beschönigt nichts, er lässt nichts aus und folgt ihr in alle Höhenflüge und Abstürze hinein. Gleichzeitig ist das Buch aber auch eine Künstlerbiografie. Und es ist letztlich der Bericht einer Gesundung, einer hart erkämpften Heilung. «Du bist gesund genug, dich zu verlieben», so lautet der erste Satz des Romans und deutet an, wohin die Reise geht. Reisen, Freundschaften und nicht zuletzt die Liebe sorgen dafür, dass der Suchende bei aller Gefährdung am Ende eine Bleibe findet. Simon Fröhling ist ein gewiefter Erzähler, der sich geschickt zwischen Zeiten und Orten bewegt und so Erlebnisräume schafft, in denen auch Aussenstehende sich wiederfinden können.
Bilger Zürich 2022, 266 Seiten
- REINHARD MEIER EMPFIEHLT
Ian McEwan: Lektionen
Ian McEwan ist heute neben Julian Barnes wohl der renommierteste lebende Schriftsteller Grossbritanniens. Im Zentrum seines umfangreichen jüngsten Romans steht die Lebensgeschichte von Roland Baines. Ihm gelingt es trotz guter Voraussetzungen nicht, in der Gesellschaft solide Fuss zu fassen und eine erfolgreiche Karriere als Musiker oder Journalist aufzubauen. Zu seinen prägenden Jugenderlebnissen gehört die Beziehung zu einer dominierenden Klavierlehrerin, die ihn schon als elfjährigen Knaben erotisch berührt hat, ihn später eine Zeitlang sexuell ganz an sich fesselt. Ob diese Erfahrung Rolands weiteres Leben so entscheidend geprägt hat, wie moderne Missbrauchs-Theorien suggerieren würden, lässt McEwan klugerweise offen. Dieser Roman ist unterschwellig ein altersweises Lehrstück über die Vergänglichkeit des Lebens – und die Erkenntnis, dass unberechenbare Schicksalsfügungen unsere Existenz oft tiefer beeinflussen als rationale Entscheidungen.
Diogenes-Verlag Zürich, 2022, 720 Seiten
Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw
Serhij Zhadan zählte schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes. Nun hat der Suhrkamp-Verlag eine Sammlung von Nachrichten und Stimmungsaufnahmen herausgebracht, die der in Charkiw lebende Autor in den ersten Monaten des Ukraine-Krieges auf Facebook veröffentlichte. Diese Notate vermitteln einen spontanen Eindruck von den Erschütterungen, dem Leiden, der Angst und gleichzeitig dem trotzigen Widerstandswillen und der Erbitterung gegenüber den Angreifern, die die Bewohner der ostukrainischen Frontstadt seit dem 24. Februar bewegen. Ein Eintrag vom 20. März zeigt ein von Bomben beschädigtes Gebäude in Charkiw. Dazu der Text: «Versehrt aber unbeugsam. Wie ich diese Stadt liebe und die Menschen, die hier leben: Wir bauen alles wieder auf, richten alles … Ruhm der Ukraine.»
Suhrkamp Berlin, 2022, 240 Seiten
Vladimir Nabokov: Maschenka
«Maschenka ist mein erster Roman. Ich begann mit der Arbeit daran im Frühjahr 1925 in Berlin», schreibt der russische Autor im Vorwort dieses Buches. Es erzählt die Geschichte von Lew Ganin, einem russischen Emigranten, der zusammen mit anderen Flüchtlingen aus seiner Heimat in einer schäbigen Pension in Berlin lebt. Im Gespräch mit dem älteren Zimmernachbarn Alferoff erfährt er, dass seine frühere Jugendliebe Maschenka dessen Frau geworden ist und dass sie bald in Berlin eintreffen wird. Ganin wird gefesselt von Erinnerungen an seine damaligen Beziehungen zu dieser Frau, die er als die «vielleicht glücklichsten Tage seines Lebens» verklärt. Doch kurz vor der Begegnung wird ihm bewusst, dass er sich in eine illusionäre Traumwelt verirrt hat. Der kurze Roman zählt nicht zu den grossen Werken Nabokovs. Doch die stimmungsvollen Schilderungen aus dem russischen Emigrantenmilieu und dessen Sehnsüchte nach der verlorenen Heimat bieten immer noch ein lohnendes Leseerlebnis.
Rowohlt Hamburg, 1981, 155 Seiten
- HEINER HUG EMPFIEHLT
Steven Derix, Marina Shelkunova: Selenskyj
Wer dieses Buch gelesen hat, kommt unweigerlich zum Schluss: Ohne Selenskyj wäre die Ukraine heute russisch. Der Autor und die Autorin beschreiben einen ukrainischen Präsidenten wie wir ihn kaum kennen: Er ist besessen von seiner Mission, eine unabhängige, freie, «entkorruptisierte» Ukraine zu schaffen. Und er wird bis zum letzten gehen. Selenskyj ist ein Workaholic und scheut keine Konfrontation, auch nicht mit dem Obersten Gericht, dem er Korruption vorwirft. Er ist ein Asket, hat leicht diktatorische Züge, ist manchmal stur und hält wenig von diplomatischen Gepflogenheiten. Gleichzeitig ist er sensibel, dünnhäutig, verträgt kaum Kritik, eliminiert jene, die nicht hundertprozentig loyal zu ihm sind. Der fliessend russisch sprechende niederländische NRC-Journalist Steven Derix und die in den Niederlanden lebende Rechercheurin Marina Shelkunova haben hunderte russischer, ukrainischer und englischer Quellen durchforstet. Sie präsentieren – kritisch – einen faszinierenden Menschen, dem nicht nur die Ukraine dankbar sein muss.
Edel-Verlag Hamburg, 2022, 192 Seiten
Walter Hauser: Anna Göldi – geliebt, verteufelt, enthauptet
Es war das Jahrhundert der Aufklärung, die Zeit nach Voltaire und Rousseau. Doch im hinteren Glarnerland herrschte noch tiefes Mittelalter. Opfer war eine «stolze, attraktive Frau», mit der ihr Dienstherr, Dr. Jakob Tschudi, ein ehrenwerter, mächtiger Mann, vermutlich «verbotenen fleischlichen Umgang» hatte. Damit die Sache nicht aufflog, rotteten sich die Mächtigen und Reichen des Kantons zusammen, um «die Dirne», «die Hexe» zu beseitigen. Alle machten mit: die Justiz, die Politik, die Kirche, der Evangelische Rat. Man setzte sich über jede Rechtsnorm hinweg. Tschudi, ein Arzt, Richter, Ratsherr, einer der mächtigsten Männer im Kanton – er ein Ehebrecher? Sicher nicht. Die 47-jährige Anna Göldi hatte keine Chance. «Nie zuvor», schreibt der Autor, «ist behördliche Willkür in einem Hexenprozess derart ausführlich dokumentiert worden.» Das ausgezeichnete Sachbuch ist minutiös recherchiert und spannend geschrieben. Tschudi, der Motor der ganzen Geschichte, fand dann doch noch seine Strafe. Die Franzosen warfen ihn in Basel ins Gefängnis. Kurz nach seiner Freilassung starb er an einem Hirnschlag.
Limmat Zürich 2022, 216 Seiten
Agnès Porier: An den Ufern der Seine
Die Idee zu diesem Buch ist originell. Die 1975 geborene Autorin beschreibt das Leben von knapp 40 prominenten Menschen, die von 1939 bis 1950 in Paris gelebt haben, also während und nach dem Krieg. Dazu gehören Simone de Beauvoir, Samuel Beckett, Albert Camus, Jean Cocteau, Miles Davis, Alberto Giacaometti, Juliette Gréco, Norman Mailer, Pablo Picasso, Jean-Paul Sartre, Simone Signoret und andere. Auf der Rive Gauche knisterte es. Das romantisierte Saint-Germain-des-Prés war damals künstlicher und intellektueller Mittelpunkt Europas, vielleicht sogar der Welt. Wie standen diese Künstler und Intellektuellen zueinander? Einige haben sich gehasst, andere haben gemeinsam nach neuen Ideen und neuen Lebensformen gesucht. Wer Paris liebt (gibt es Leute, die Paris nicht lieben?), taucht in diesem Buch auf wunderbare Weise ins Pariser Leben der Vierzigerjahre ein – ein Leben, das noch heute erstaunlich stark nachwirkt.
Klett-Cotta Stuttgart, 2020, 506 Seiten
- STEPHAN WEHOWSKY EMPFIEHLT
Der Literatur Kalender 2023. Momente des Miteinander
Jede Woche ist einer Autorin oder Autor gewidmet. Dafür hält dieser Kalender jeweils ein beeindruckendes Foto und einen klug ausgewählten Text bereit. Zudem stösst man im oben angefügten Wochenkalender auf die Geburtstage anderer Autoren. Der Zufall will es, dass es im Jahr 2023 zahlreiche 100. Jubiläen gibt. Dieser Kalender ist eine unübertroffene Mischung aus überraschenden Textfundstücken und seltenen Fotos. Im vergangenen Jahr erhielt er den Preis des Deutschen Buchhandels als «bester Longseller». Es gibt ihn seit fast 40 Jahren. Zeit, ihn zu entdecken und sich von ihm anregend durch das Jahr begleiten zu lassen.
edition momente, hg. von Elisabeth Raabe, gestaltet von Max Bartholl, 60 Blätter, 53 Fotos
Ben Macintyre: Agent Sonja. Kommunistin, Mutter, Topspionin
Das ist ein Thriller, der auf gründlich recherchierten Tatsachen beruht. Er handelt von der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs. Ursula Kuczynski, «Agent Sonja», kam aus gehobenen Verhältnissen, war aber ebenso wie ihr Bruder, der bekannte Wirtschaftstheoretiker Jürgen Kuczynski, Kommunistin mit Leib und Seele. Ihr Lebensweg brachte sie in Asien mit Richard Sorge zusammen, einem der brillantesten Spione überhaupt, der den Zweiten Weltkrieg massgeblich beeinflusste. Kaum weniger bedeutend der Atomphysiker und Spion Klaus Fuchs. «Sonja» versuchte, für die Russen das englische Atomprogramm auszuspionieren. Meisterhaft zeichnet Macintyre die Lebenswege der Protagonisten an den Schnittstellen der damaligen Weltgeschichte nach. Ein spannendes Buch, wie man es sich wünscht.
Insel Verlag Berlin, 2022, 550 Seiten
Liz Nugent: Auf der Lauer liegen
Ein Richter ermordet eine junge Frau, und seine Gattin hilft ihm dabei, die Leiche im eigenen Vorstadtgarten zu vergraben. Sie glauben, dass niemand ihnen auf die Schliche kommen würde, aber schon der eigene Sohn lässt sich nicht täuschen. Auch hatte sich der Richter in der Umgebung der Toten stärker bemerkbar gemacht, als er glaubte, und so wollen die Gerüchte um die Tat kein Ende nehmen. Liz Nugent erzählt das Ganze wie eine Familiengeschichte aus den Perspektiven der Beteiligten. Die Mutter resümiert: «Mein Mann hatte eigentlich nicht vor, Annie Doyle umzubringen, aber diese verlogene Schlampe hat es nicht anders verdient.»
Steidl Göttingen, 2022, 368 Seiten
- IGNAZ STAUB EMPFIEHLT
Mark Leibovich: Thank You For Your Servitude
Der Autor, langjähriger Chefkorrespondent des Magazins der «New York Times», geht anekdotisch der Frage nach, wie amerikanische Politiker, die anfänglich zu Donald Trumps heftigsten Kritikern gehört hatten, in der Folge zu unterwürfigen Dienern ihres Herrn im Weissen Haus mutierten. Wie war es zu erklären, dass rationale Individuen jegliche Selbstachtung und Prinzipien über Bord warfen, nur um Karriere machen zu können und noch mächtiger zu werden? Und wie schaffte es Präsident Trump, solche Leute bei der Stange zu halten, obwohl er sie wiederholt beleidigt und blossgestellt hatte? Mark Leibovich zeichnet das Sittenbild einer politischen Klasse in Washington DC, deren hervorstechendsten Charaktermerkmale Heuchelei und Zynismus zu sein scheinen. Seit der Ankündigung Donald Trumps, 2024 erneut für die Republikaner als Präsident kandidieren zu wollen, hat das Sachbuch über die Innereien des amerikanischen Polit-Betriebs unvermittelt an Aktualität gewonnen.
Penguin Press, New York 2022, 339 Seiten
Andreas Busslinger: Vertikale Sicht – Ein Blick auf die Schweiz
Die Aufnahmen des Baarer Fotografen, der mit Gleitschirm-Fotografien bekannt geworden ist, laden dank ihrer besonderen Perspektive zum Rätseln und Staunen ein. Sie überraschen auch ob ihrer Vielfalt und Variabilität. In allen vier Landesteilen hat Andreas Busslinger seine Drohne zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten steigen lassen und Einblicke gewinnen können, wie sie so zuvor nur selten zu sehen waren: unten von oben. Dabei zeigt er keine Postkarten-Schweiz und keine heile Welt, sondern eine moderne Zivilisation, deren Errungenschaften die nationale Landschaft für immer und unwiederbringlich verändert haben, auch wenn sich die Natur hier und dort trotzig behauptet und nichts an Schönheit eingebüsst hat. Wie jedem guten Flugfotografen ist es dem 65-Jährigen dank Einsatz, Engagement und Können gelungen, für seinen faszinierenden Bildband Tiefgründiges aus Oberflächlichem herauszuholen.
Teammedia GmbH, Gurtnellen 2022, 256 Seiten
Daniel Silva: Portrait Of An Unknown Women
Hauptfigur im Thriller des amerikanischen Bestseller-Autors ist wie in dessen früheren Büchern Gabriel Allon, der einst Chef des israelischen Geheimdienstes in Jerusalem war, seither aber als Kunstrestaurator mit einer Familie in Venedig lebt. Wie stets kann sich Allon bei der Aufklärung eines komplexen internationalen Fälscherskandals auch im vorliegenden Fall auf frühere Agenten-Kontakte verlassen, um einer geldgierigen Bande das Handwerk zu legen, die für Millionengewinne Bilder alter Meister wie wertvolle Gemälde von Sir Anthony van Dyck fälscht. Dabei erfährt die geneigte Leserschaft allerlei Wissenswertes über kriminelle Machenschaften des internationalen Kunstbetriebs und das mitunter dubiose Geschäftsgebaren angeblich renommierter Galerien. Und wie stets bei Daniel Silva ist auch dieser Thriller akribisch und liebevoll recherchiert.
HarperCollinsPublishers London 2022, 431 Seiten
- URS MEIER EMPFIEHLT
Bryan Washington: Lot. Geschichten einer Nachbarschaft
Das Buch wird meist als Sammlung von Short Stories bezeichnet, doch genauso gut kann man darin einen Roman in fragmentierter Form sehen. Schauplatz ist das arme farbige Houston in Texas. Washingtons famoser Erstling ist ein Stück Street Literature mit scharfem ethnologischem Blick. Seine Sprache spiegelt die Gewalt, mit der das Milieu durchtränkt ist. Doch mit der Zeit wird diese raue Diktion transparent; man versteht, dass die Figuren der Notwendigkeit permanenter Angriffigkeit unterliegen – ein hartes Buch über ein hartes Leben. Und trotzdem ist es eine Geschichte mit Spuren einer glaubhaften und tief berührenden Menschlichkeit. Bryan Washington gilt zu Recht als herausragendes Talent in der an Talenten reichen amerikanischen Literatur.
Kein & Aber Zürich, 2022, 235 Seiten
Stefan Hertmans: Der Aufgang, Roman
Wim Verhulst, ein flämischer Elektrohändler, ist nach der deutschen Besetzung Belgiens flugs zum SS-Offizier avanciert. Er ist der Antiheld par excellence: borniert, fanatisch, hinterhältig, feige und auf verdruckste Weise grausam. Das Erstaunliche an der auf wahren Begebenheiten beruhenden Geschichte: Wims kluge, fromme und pazifistische Frau, die Holländerin Mientje, hält unverbrüchlich zu ihm, obschon er sie schamlos betrügt und die Familie im Stich lässt und obgleich sie seine faschistische Gesinnung offen ablehnt. Hertmans nähert sich dem Rätsel dieser sanften und unbeugsamen Frau behutsam. Sein Roman beleuchtet ein Kapitel des Zweiten Weltkriegs, das in Belgien bis heute nicht überwunden ist.
Diogenes Zürich, 2022, 472 Seiten
Joseph Conrad: Lord Jim, Roman
Der vielbewunderte Klassiker, zuerst als Fortsetzungsroman 1899/1900 erschienen, ist von Michael Walter bravourös neu übersetzt worden. Jim begeht als junger britischer Seemann in Südostasien einen schrecklichen Fehler. Vor Gericht kommt er glimpflich davon, doch die Schuld lastet lebenslang auf ihm. Als Kolonialstatthalter auf der fiktiven Insel Patusan befriedet er verfeindete Stämme und gewinnt das Ansehen der Ureinwohner, die ihm den Ehrentitel «Lord» geben. Wegen eines Missverständnisses wird er getötet, was er wie eine Sühnestrafe auf sich nimmt. Conrad verleiht der Geschichte eine komplexe Erzählstruktur, in der sich ihre Vielschichtigkeit abbildet. Zudem ist der Roman eine hintergründige und hellsichtige Kritik des Kolonialismus. – Die Conrad-Biographie im Anhang ist ein Abenteuerroman für sich.
Hanser München, 2022, 640 Seiten
- CHRISTOPH KUHN EMPFIEHLT
Bob Dylan: Die Philosophie des modernen Songs
In seinem Buch «Die Philosophie des modernen Songs» outet sich Bob Dylan (nicht zum ersten Mal) als hochbegabter Denker und Schreiber, der auch ganz ohne Musik zu faszinieren vermag. In 66 kleinen Kapiteln stellt er uns die Songs vor, die er für wichtig hält, auch für stilbildend. Die Kapitel sind durchwegs zweigeteilt: im ersten Anlauf richtet sich Dylan in der «Du»-Form direkt ans Publikum, lässt uns teilhaben an seinen Gedanken und Gefühlen beim Anhören der Lieder, die er ausgewählt hat. Natürlich hat man am meisten von seinen Texten, wenn man das angesprochene Lied kennt. Wenn nicht, wird man es nach der Lektüre unbedingt hören wollen. Im zweiten Kapitelteil analysiert Dylan den Song, vermittelt biografisches, auch theoretisches Wissen und ordnet die Lieder gesellschaftlich oder genremässig in grössere Zusammenhänge ein. Ein aufregendes, originelles, in jeder Hinsicht einzigartiges Buch! Reich illustriert. Aus dem Englischen von Conny Lösch.
Verlag C. H. Beck München, 2022, 352 Seiten
Andreas Tobler: Bändlistrasse
Andreas Tobler, Redaktor bei Tamedia, hat die Zeit, die er in seinem Buch «Bändlistrasse RAF, LSD, PKO und TNT» beschreibt, nicht erlebt, was sich, eingedenk der hohen, emotionalen Wellen, die das Thema seinerzeit geworfen hat, als Vorteil erweist. Das schmale Buch beginnt, wirkungsvoll, in Zürich mit dem am 25. April 1972 erfolgten Fenstersprung eines LSD-berauschten jungen Mannes. Im folgenden kam die Polizei der «Gruppe Bändlistrasse» auf die Schliche, fand in der Wohnung des Fensterspringers Waffen, Sprengstoff, Drogen und untersuchte Verbindungen der Gruppe zur deutschen RAF. Tobler hat mit Ueberlebenden, mit Zeugen und Tätern gesprochen, hat kiloweise archivierte Aktien durchgeforstet – und aus dem immensen Material ein schlankes, fast möchte man sagen elegantes Buch gefertigt. Er verharrt in einem unangestrengt sachlichen Ton, vermeidet es, seine Erkenntnisse, seine spannenden, nicht selten auch skurrilen Forschungsergebnisse zu werten. Das mit Archivfotos illustrierte Buch liest sich gut und es bleibt der Leserschaft überlassen, was sie aus dem präzis dargelegten Material machen will.
Echtzeitverlag Basel, 2022, 160 Seiten