- REINHARD MEIER EMPFIEHLT
Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Elena Ferrante, die Autorin der vierbändigen neapolitanischen Saga aus einem Armenviertel, die zu einem Weltbestseller wurde, bietet dem Leser einen neuen Roman, der in der gleichen Stadt spielt. Die dreizehnjährige Giovanna erzählt als Einzelkind von ihren Erfahrungen mit ihren intellektuell ambitionierten Eltern. Sie erfährt, dass ihr Vater aus einer ärmlichen Familie stammt, mit der er den Kontakt abgebrochen hat. Dennoch knüpft Giovanna eine Beziehung zu ihrer Tante Vittoria, die ein vulgäreres, aber in mancher Hinsicht ehrlicheres Leben führt. Sie kämpft mit den eigenen Wirrnissen der Pubertät und der Faszination des Geschlechtlichen. Die Vielschichtigkeit und das Charisma der vorhergehenden Neapel-Tetralogie erreicht dieser Roman zwar nicht, doch er bietet immer noch ein packendes Leseerlebnis.
Suhrkamp, 2020, 415 Seiten
Gertrud Leutenegger: Späte Gäste
Im neuen Roman von Gertrud Leutenegger erzählt eine Frau, wie sie in das Tessiner Dorf an der Grenze zurückkehrt, in dem sie viele Jahre gelebt hat. Ihr früherer Lebensgefährte Orion ist gestorben. Sein Name hat offenkundig etwas mit dem gleichnamigen Sternbild des wilden Himmelsjägers aus der griechischen Mythologie zu tun. Die Ich-Erzählerin verbringt die Nacht vor der Totenmesse im verlassenen Wirtshaus am Waldrand. Zwischen Traum und halbwachem Zustand wird sie von Bildern aus der turbulenten Vergangenheit mit Orion und ihrer Flucht mit dem Kind heimgesucht. Später tauchen Fastnachtsgestalten und Bilder von Flüchtlingen im Mittelmeer auf. Ein Buch mit wenig äusserlicher Handlung, aber atmosphärisch starken Schilderungen seelischer Erinnerungsvorgänge.
Suhrkamp, 2020, 175 Seiten
Orlando Figes: Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung der europäischen Kultur
Der britische Historiker und Russland-Spezialist Orlando Figes erzählt in seinem neuen Buch dem Leser eigentlich zwei Geschichten. Die eine schildert die Ausbreitung der Eisenbahn um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa. Damit werden die Verbindungen zwischen den europäischen Städten grundlegend erleichtert, was dem gegenseitigen Kulturaustausch enormen Auftrieb verschaffte. Die zweite, damit verknüpfte Geschichte, erzählt die Dreiecksbeziehung zwischen der französisch-spanischen Operndiva Pauline Viardot, ihrem Gatten Paul Viardot und dem russischen Schriftsteller Iwan Turgenjew. Meiner Ansicht nach ist das der spannendste Teil des Buches. Diese bewegende Erzählung zeigt auch, wie tief die russische Oberschicht in die europäische Kultur integriert war und wie viel sie zu ihrem Reichtum beigetragen hat.
Hanser, 2020, 640 Seiten
- URS MEIER EMPFIEHLT
Hans Joachim Schädlich: Die Villa
Schädlich erzählt eine deutsche Familiensaga zwischen 1930 und 1950 mit dem Wollhändler Hans Kramer und seiner Frau Elisabeth mit ihren vier Kindern im Mittelpunkt. Lakonisch schildert er den mit erschreckender Zwangsläufigkeit heraufziehenden Nationalsozialismus. Der Diktatur folgen der Krieg und das Elend der Nachkriegszeit. Man lebt, wie es halt geht unter solchen Umständen. Hier in der tiefen Provinz sind die grossen Dramen weit weg. Buchenwald und Stalingrad sind Gerüchte, gegen die man sich mit Nichtwissen wappnet. Sich ducken und nicht zu viel sagen, heisst die Devise. Ein in seiner treffsicheren Wortkargheit unerhört starkes Buch.
Rowohlt, 2020, 189 Seiten
Ferdinand von Schirach: Strafe, Stories
Von Schirach, der schreibende Anwalt und Strafverteidiger, reiht Bestseller an Bestseller. Seine Stücke sind grosse TV-Ereignisse. Auch als Erzähler bleibt er der Welt der Justiz verhaftet: Seine Stoffe entzünden sich an Regelbrüchen, loten deren Ursachen, Folgen und Irritationen aus. So ungewöhnlich die Geschichten, so alltäglich die Sprache. Von Schirachs Texte sind gradlinig, sachlich, auf Wirkung hin gebaut – wie gute Plädoyers. Jede dieser Stories appelliert ans Lesepublikum, sich ein Urteil zu bilden und auf dem Richterstuhl Platz zu nehmen.
Random House, 2018, 189 Seiten
Klaus Bäumlin (Hg.): Kurt Marti. Sprachkünstler, Pfarrer, Freund
Der 2017 verstorbene Kurt Marti wäre am 31. Januar 2021 hundert Jahre alt geworden. Mit Blick auf diesen Gedenktag hat Klaus Bäumlin einen Strauss von Beiträgen zusammengestellt. Franz Hohler, Guy Krneta, Joy Matter, Fredi Lerch und andere beleuchten Facetten einer der wichtigsten Persönlichkeiten in der Schweizer Literaturszene seit den Fünfzigerjahren. Sichtbar wird Kurt Marti nicht nur als Schriftsteller und Lyriker, sondern auch als kritischer Zeitgenosse, dessen Sprachkunst ebenso poetisch wie politisch ist. Ausserdem würdigt das Bändchen den Theologen und Pfarrer, der die religiöse Sprache im Kontext der Gegenwart erneuert hat.
TVZ Verlag, 2020, 173 Seiten
- STEPHAN WEHOWSKY EMPFIEHLT
Richard Middleton: Das Geisterschiff
Die 13 Geschichten dieses Bandes haben eine besondere Tonlage, eine wunderbare Sprache und sind psychologisch scharf gezeichnet. Mit dem „Geisterschiff“ hat Middleton sich eine begeisterte Lesergemeinde geschaffen: In einem kleinen Dorf ankert nach einem Wirbelsturm ein Piratenschiff in einem Rübenacker. Dabei fliesst sehr viel Rum. Middleton hat einen Blick für das Skurrile und entsprechenden Humor. Er verstarb 1911 im Alter von 29 Jahren. „Das Geisterschiff“ erscheint zum ersten Mal in deutscher Sprache.
Steidl Nocturnes, 2020, 128 Seiten
Adriana und Alfred Mettler: Crazy Country USA. Notizen aus einem eigenwilligen Land
Alfred und Adriana Mettler beschreiben die heutige USA aus ihrer mehr als 20-jährigen Erfahrung als amerikanisch-schweizerische Doppelbürger. Sie verbinden Beobachtungen aus ihrem Alltag mit genauen Analysen des Bildungssystems und der politischen Tendenzen. Das Buch ist streckenweise sehr unterhaltsam, aber auch immer wieder ernüchternd. Auch wenn man einiges über Amerika weiss, findet man interessante Perspektiven. Die Wende von Trump zu Biden wird jedenfalls keine Wunder bewirken.
Orell Füssli, 2020, 224 Seiten
Walter A. Sontag: Das wilde Leben der Vögel
Auch wenn man kein ausgeprägtes Interesse an Ornithologie hat, wird man dieses fesselnde Buch nicht so schnell aus der Hand legen. Der Autor erzählt spannend aus der Geschichte der Ornithologie und vor allem schildert er die Lebensweisen und Verhaltensformen der in- und ausländischen Vögel. Er zeigt eindrücklich, über wie viel Individualität jeder Vogel verfügt. Und natürlich gibt es Gruppendynamik, zu der wiederum höchst originelle Experimente gemacht wurden. Nach der Lektüre sieht man die Vögel mit anderen Augen.
C. H. Beck, 2020, 240 Seiten
- KLARA OBERMÜLLER EMPFIEHLT
Philip Gwynne Jones: Das venezianische Spiel
Endlich einmal ein Venedig-Krimi ohne Commissario Brunetti und Signorina Elettra, dafür mit einem schrulligen englischen Honorarkonsul namens Nathan Sutherland, der es bislang mehr mit ausgeraubten Touristen als mit handfesten Verbrechen zu tun hatte. Der gebürtige Waliser Philip Gwynne Jones, der selbst seit bald zehn Jahren in Venedig lebt, versteht es meisterhaft, Kriminalistisches mit Atmosphärischem zu verbinden. Venedig ist in Band 1 dieser neuen Krimi-Reihe so präsent, der Ermittler so liebenswürdig unbeholfen, dass man über die arg konstruierte Handlung gerne hinwegsieht. Die gute Nachricht: Der Autor schreibt weiter, Band 2, „Venezianische Vergeltung“, liegt bereits auf Deutsch vor.
Rowohlt, 2020, 336 Seiten
Naoko Abe: Hanami. Die wundersame Geschichte des Engländers, der den Japanern die Kirschblüte zurückbrachte
Wäre die Geschichte nicht verbürgt und von der japanischen Journalistin Naoko Abe akribisch recherchiert, man vermöchte sie kaum zu glauben: Da reist ein exzentrischer Engländer im Jahr 1902 nach Japan, ist hingerissen von der Schönheit der dortigen Kirschblüte und beschliesst, Schösslinge aus dem Land zu schmuggeln und damit die Bäume in ihrer Vielfalt vor der fortschreitenden Abholzung zu retten. Indem die Autorin das Leben des passionierten Botanikers und Gartengestalters Collingwood „Cherry“ Ingram rekonstruiert, gewährt sie einen höchst originellen Einblick in japanische Geschichte, Politik und Lebensart und macht darüber hinaus deutlich, wie aktuell Ingrams Kampf um die Erhaltung der Artenvielfalt auch heute noch ist.
S. Fischer, 2020, 448 Seiten
Robert Seethaler: Der letzte Satz
Der Komponist Gustav Mahler auf seiner letzten Schiffsreise von Amerika zurück nach Europa: ein schwerkranker Mann, dem schmerzlich bewusst wird, dass ihm seine geliebte Frau Alma entgleitet, seine Schaffenskraft schwindet und sein Dasein dem Ende entgegen geht. Robert Seethaler beschreibt den Künstler, wie er, auf Deck eines Luxus-Dampfers sitzend, das Leben an sich vorüber ziehen lässt, die Erfolge ebenso wie die Niederlagen, den Verlust seiner Tochter Maria, die antisemitischen Anfeindungen, das künstlerische Ringen um eine letzte, die 10. Sinfonie. Entstanden ist ein schmaler Band, eine Novelle, könnte man sagen, die keine Musiker-Biografie sein will, sondern ein stilles und sehr berührendes Dokument über die Flüchtigkeit der menschlichen Existenz.
Hanser, 2020, 128 Seiten
- CHRISTOPH KUHN EMPFIELT
Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos
Der in Paris lebenden deutschen Autorin Anne Weber ist mit ihrer Erzählung, für die sie den deutschen Buchpreis erhalten hat, ein grosser Coup gelungen. In Südfrankreich hat sie die über 95-jährige Annette Beaumanoir kennengelernt, die in ihrem turbulenten Leben eine Kämpferin in der Résistance und für die Unabhängigkeit Algeriens war. Weber wählt für ihr Werk die ehrwürdige Form des antiken Epos, der Verserzählung, die sie ganz frei und sehr souverän auslegt: keine Reime, kein metrischer Zwang, aber ein bestechender, mitreissender Rhythmus, lyrische Dichte und lakonische Ausdrucksweise. Menschlich, auch widersprüchlich erscheint uns die Heldin in diesem packenden Gesang, der Schwerwiegendes, Abgründiges melodiös aufzulösen weiss.
Matthes&Seitz Verlag, 2020, 207 Seiten
Thomas Hürlimann: Abendspaziergang mit dem Kater
Ein zugelaufener Kater als „running gag“ strukturiert diese Sammlung kürzerer Prosa-Texte – Erzähltes, kleine Essays, Zeitungsartikel, Vortragsauszüge – die der Schweizer Autor Thomas Hürlimann aus seinem vielschichtigen Werk zusammengestellt hat. Entstanden ist ein perfekt gefügtes Ganzes. Herkunft, Entwicklung werden erinnert, literarische Vorbilder gewürdigt, das Theater bespielt, die Heimat kritisch beleuchtet, schwere Krankheit beschrieben. Hürlimann ist ein eigenständiger und eigenwilliger Denker. Dem gründlichen Filosofieren antwortet das lustvolle Fantasieren. Elegant der Stil, anschaulich, auch wenn es um Denkfiguren geht. Jederzeit sitzt dem Autor der Schalk im Nacken. Humor, Heiterkeit erhellen noch die düstersten Stunden und machen die Lektüre zu einem Hochgenuss.
S. Fischer Verlag, 2020, 303 Seiten
Stefan Keller: Spuren der Arbeit
Der Thurgauer Stefan Keller hat im Auftrag des Amtes für Arbeit und Wirtschaft des Kantons Thurgau eine grosse Reportage über Arbeit im Thurgau geschrieben. Das mit alten Fotos kostbar ausgestattete Buch, das mit einer Reise Hölderlins nach Hauptwil im Jahr 1801 beginnt und in unseren Tagen in Diessenhofen endet, lässt keine Wünsche offen. Keller, als Autor und Journalist ein Spezialist für Themen aus der Arbeitswelt, hat akribisch recherchiert und keine Mühe gescheut, um aus den Enden und Ecken des Kantons herauszufiltrieren, was Arbeit bedeutete, wo und wie sie zu handhaben war, wer die Profiteure und wer die Hungerleider waren, unter welchen Umständen die Entwicklungen Wohlstand und unter welchen anderen sie Niedergang brachten. Zeugenberichte, archivierte Dokumente werden sorgfältig kombiniert. Das umfassende Material verwandelt sich in Kellers Händen in eine Art von nicht fiktionaler Erzählung, die einen informiert und fasziniert.
Rotpunktverlag, 2020, 231 Seiten
- IGNAZ STAUB EMPFIEHLT
Nadya Bair: The Decisive Network
„Magnum Fotos und der Bildermarkt nach dem Krieg“, heisst der Untertitel des Bandes von Nadja Bair über die legendäre Agentur, die 1947 in New York gegründet worden ist. Anders als im Fall von Magnum sonst mitunter üblich, verfällt die Fotohistorikerin nicht der Heldenverehrung, sondern schildert zwar engagiert, aber nüchtern und gut dokumentiert die Anfänge der Agentur, die ihren Ruf einer Vielzahl hervorragender Fotografen verdankt. Aber nicht nur. Wichtig waren stets auch die Leute im Hintergrund, welche die Fotografen lenkten, motivierten und unterstützten. Und die im Laufe der Jahre dafür sorgten, dass die Bilder mit dem Gütesiegel Magnum in alle Welt vertrieben und von Magazinen wie „Life“, „Look“ oder „National Geographic“ prominent gedruckt wurden.
University of California Press, Oakland 2020, 322 Seiten
Michael Connelly: Fair Warning
Anwalt Mickey Haller ist in Los Angeles als „Lincoln Lawyer“ bekannt, da sein Büro eine chauffierte Limousine ist. Vor Jahren hat er sich als Strafverteidiger einen skrupellosen Mafioso aus Las Vegas zum Feind gemacht, da er ihm ein lukratives Geschäft vermasselte. Nun rächt sich der Gangster, indem er Haller raffiniert einen Mord unterzuschieben versucht: Im Kofferraum des Lincoln wird die Leiche eines früheren Klienten des Verteidigers gefunden. Es kommt zum Prozess und Haller, zwischenzeitlich inhaftiert, steht erstmals als Angeklagter vor Gericht, der sich selbst verteidigt. Detailliert und packend schildert Connelly das Ritual eines amerikanischen Geschworenenprozesses, an dessen Ende, nach allerlei Intrigen seitens des Staates, die Unschuld des gewieften Anwalts ganz knapp feststeht.
Orion, London, 2020, 421 Seiten
Kim Ghattas: Black Wave
Kim Ghattas, im Libanon geboren und aufgewachsen, war über 20 Jahre lang Nahost-Korrespondentin der BCC und der „Financial Times“. Heute forscht sie für einen renommierten Thinktank in Washington DC. Ihr zufolge war das Jahr 1979 der Wendepunkt in der modernen Geschichte der Region. Es war das Zusammentreffen dreier nur auf den ersten Blick unzusammenhängender Ereignisse: der Revolution im Iran, der Besetzung der Heiligen Moschee in Mekka und des Einmarschs sowjetischer Truppen in Afghanistan. Seither streiten sich der Iran und Saudi-Arabien um die religiöse und kulturelle Vorherrschaft in der islamischen Welt – mit mitunter verhängnisvollen Folgen für Alliierte und arabische Nachbarn.
Wildfire, London, 2020, 378 Seiten
- ROLAND JEANNERET EMPFIEHLT
Heimo Schwilk: Hermann Hesse, Das Leben des Glasperlenspielers
Kein deutscher Autor des 20. Jahrhunderts hat mehr Leser begeistert als Hermann Hesse. Sein Werk zählt zur Weltliteratur. Wer sich über die Festtage neu oder wieder in das Schaffen von Hermann Hesse vertiefen möchte, dem sei die Biografie des renommierten Journalisten Heimo Schwilk empfohlen: Sie zeigt das Wirken eines Dichters, der ebenso erfolgreich wie widersprüchlich lebte, oftmals selber Abbild seiner Romanfiguren mit seinen Krisen und Triumphen zwischen Lieben, Zweifeln und Scheitern.
Die Pforzheimer Zeitung schrieb über das Buch: „Heimo Schwilk vermittelt lebendige, mit (teilweise wenig bekannten) Fakten angereicherte Ausschnitte aus dem Leben des Glasperlenspielers.“
Piper-Verlag, 2013, 432 Seiten
Matthias Zehnder: Die digitale Kränkung, Über die Ersetzbarkeit des Menschen
Am 11. Mai 1993 sass Schachweltmeister Garry Kasparow in Manhattan regungslos vor seinem Schachbrett, stand auf und verliess wild gestikulierend den Raum. Das bisher Unvorstellbare war geschehen: Der Computer „Deep Blue“ hatte soeben den amtierenden Schachweltmeister geschlagen.
„Dies war ein historischer Durchbruch und eine digitale Kränkung des Menschen“, stellt Buchautor Matthias Zehnder fest. Ist der Computer ein Segen für die Menschheit, macht er aus uns einen lahmen und schlampigen Roboter? Oder gar einen Ersatz Gottes? Viele – gerade auch zur beschaulichen Weihnachtszeit – offene Fragen …
NZZ libro, 2019, 128 Seiten
Thomas Bornhauser: Wengen
Wer kennt ihn nicht – zumindest vom Fernsehen – den Hundschopf, eine der spektakulärsten Stellen im Lauberhorn-Abfahrtsrennen? Bloss flitzen hier keine siegeswütigen Ski-Rennfahrer an uns vorbei, sondern diesmal liegt dort ein Toter. Genau an jener Stelle, wo demnächst die grösste und mondänste Hotelanlage entstehen soll. Das „Swiss Luxury Resort“ spaltet die Bevölkerung im Dorf Wengen und in der Gemeinde Lauterbrunnen und fordert offensichtlich ein erstes Opfer. Joseph Ritter (Leiter des Dekanats Leib und Leben) ist einmal mehr extrem gefordert. Krimifreunden dürfte bei der Lektüre – wortwörtlich – kalter Schauder über den Rücken laufen ...
Weber Verlag, 2020, 200 Seiten
- HEINER HUG EMPFIEHLT
Klaus Brinkbäumer, Stephan Lamby: Im Wahn: Die amerikanische Katastrophe
Aktueller geht nicht. Als „zerfallende, wütende Nation“ bezeichnen die Autoren die USA. Klaus Brinkbäumer, der frühere Chefredaktor des Spiegel, gehört zu den profunden Amerika-Kennern. Zusammen mit dem Dokumentarfilmer Stephan Lamby zeichnet er ein schreckliches Bild des einst grossen Amerika. Seit längerer Zeit habe sich das Land von seinen Idealen entfernt. Nach vier Jahren Trump seien die USA von Hass erfüllt und erlebten eine Katastrophe nach der anderen. Die Fronten seien derart verhärtet, dass eine Besserung auf lange Zeit hinaus nicht in Sicht sei. Wahnhafte Verdrehungen, Lügen und Dauerattacken gegen den Feind würden das politische Leben bestimmen. Auch wenn Trump jetzt weg ist: Das Buch macht deutlich, dass angesichts des tiefen Hasses, der auf beiden Seiten der Gräben grassiert, Biden es schwer haben wird, die Nation weiterzubringen.
C. H. Beck, November 2020, 391 Seiten
Nina Gladitz: Leni Riefenstahl, Karriere einer Täterin
Als sie im Jahr 2003 101-jährig starb, kamen deutsche Politiker und Kulturkritiker noch immer nicht von ihr los und huldigten ihrer „kreativen Ästhetik“. Noch heute wird die Filmregisseurin wegen ihres Nazi-Propapandafilms „Olympia“ gelobt. Jahrelang wurde kleingeredet, dass sie Hitler, Goebbels und anderen Nazi-Schergen in den Hintern kroch. Jetzt endlich gibt es ein Buch, das das wahre Gesicht von Leni Riefenstahl zeigt. Die deutsche Dokumentarfilmerin Nina Gladitz hatte sich schon lange auf Riefenstahl eingeschossen: Jetzt legt sie neue Recherchen und Dokumente vor. Die Regisseurin wird als skrupellose, machtversessene Person dargestellt, die jeden aus dem Weg räumt und deren künstlerische Bedeutung weit überschätzt wird. Das Buch ist indirekt auch eine Abrechnung mit dem Nachkriegsdeutschland, das Riefenstahls Nazi-Vergangenheit als „entschuldbare Sünde“ bagatellisierte.
Orell Füssli, 2020, 428 Seiten
Barack Obama: Ein verheissenes Land
Es gibt Bücher, über die alle sprechen – und kaum einer liest sie. Rezensionen da und dort, Vorabdrucke hier und da, Interviews, ein Riesen-Hype. So weiss man fast alles, ohne das Buch lesen zu müssen. Doch es tut gut, Obamas ersten Teil seiner Memoiren zu lesen. Amerika sollte nicht aufgeben, es sollte wieder nach seinen Idealen leben. Yes, we can – wir können noch immer. Das wirkt vielleicht blauäugig und amerikanisch pathetisch. Doch gerade nach vier Jahren Trump braucht es solche Botschaften. Wenn Politiker ihre Memoiren schreiben, loben sie sich meist über den grünen Klee und rechtfertigen ihre Entscheide. Obama tut das nicht. Wir erleben einen manchmal zweifelnden, selbstkritischen, ehrlichen Präsidenten. Das Buch zeigt seine Jugend, seinen politischen Aufstieg und seine ersten zwei Präsidentenjahre. Es endet mit der Tötung Bin Ladens. Der Mensch hat auch Humor und nimmt sich nicht allzu ernst. So beschreibt er die mühsamen internationalen Konferenzen: „Da sitzt du, kämpfst mit dem Jetlag, tust dein Bestes, um interessiert auszusehen.“
Kindle, November 2020 (A Promised Land, Kindle)