Das Rennen um die Nachfolge der britischen Premierministerin scheint gelaufen. Es gibt kaum noch Zweifel, dass Boris Johnson zu den letzten zwei Bewerbern gehören wird, deren Namen die konservative Unterhausfraktion in den nächsten Tagen den Parteimitgliedern zur Entscheidung über den neuen Parteichef vorlegen wird. Der Sieger wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Boris Johnson heissen. Und als Vorsitzender der gegenwärtig noch stärksten Partei im Unterhaus wird ihn die Queen zum neuen Premierminister berufen.
Erzwungene Neuwahlen nach dem Amtsantritt?
Doch wenn es Ende Juli soweit kommt, hat der unberechenbare Johnson keineswegs eine sichere Mehrheit im Unterhaus hinter sich – schon gar nicht in der verkorksten Brexit-Frage. Die Labour-Fraktion hat bereits in Aussicht gestellt, dass sie gegen den neuen Regierungschef Johnson kurz nach dessen Ernennung einen Misstrauensantrag stellen würde.
Da die Tories im Unterhaus in der alles dominierenden Brexit-Frage genauso gespalten sind wie die Labour-Partei, könnte ein solcher Misstrauensantrag sogar Erfolg haben, weil mehrere konservative Abgeordnete und wahrscheinlich auch die nordirischen Vertreter ihn unterstützen würden. Die Folge: Der wirblige Boris könnte nicht mehr weiterregieren und es müssten Neuwahlen ausgerufen werden.
Eine Neubestellung des britischen Unterhauses aber könnte, so wie jetzt die Stimmung im Lande aussieht, durchaus zu einem Desaster für die Tories werden – und möglicherweise auch für die Labour-Partei, deren Chef Jeremy Corbyn selbst in den eigenen Reihen schwer umstritten ist.
Mögliche Mehrheit für die Brexit-Gegner
Mit starken Gewinnen bei baldigen Neuwahlen dürften demgegenüber die gemässigten Liberal Democrats (Lib Dems) rechnen, die als einzige traditionelle Partei geschlossen gegen den Brexit, also gegen den Austritt Grossbritanniens aus der EU kämpft. Die Lib Dems haben, ebenso wie die noch junge grüne Partei, jedenfalls bei den vor kurzem stattgefundenen Kommunalwahlen und den Wahlen für das EU-Parlament bedeutende Erfolge erzielt. Dieses Anti-Brexit-Lager könnte zusammen mit den schottischen und Wales-Nationalisten sowie den Brexit-Gegnern in der Labour-Partei sogar eine Mehrheit im Unterhaus zusammenbringen. Boris Johnson und seine Tories wären dann jedenfalls weg von den Schalthebeln der Regierung und müssten sich mit den harten Oppositionsbänken begnügen.
Allerdings könnten Neuwahlen auch der kompromisslosen Brexit-Partei des Nationalisten Nigel Farage einen mächtigen Vormarsch bescheren, der aber wiederum hauptsächlich zu Lasten von Johnsons Tories gehen würde. Sollte Johnson in diesem Fall gezwungen sein, mit Farage zu paktieren, um weiterhin an der Regierung bleiben zu können, so wäre das wohl nur möglich, wenn er sich in Sachen Brexit zu einem No-Deal-Austritt verpflichten würde. Boris Johnson würde diesen Handel zweifellos ohne Skrupel akzeptieren.
Chancen für ein zweites Referendum
Doch ob ein vertragsloser Austritt, der unter den Wählern von einer klaren Mehrheit abgelehnt wird, im Parlament je die notwendige Mehrheit finden würde, ist absolut unsicher. Bessere Chancen hätte wahrscheinlich ein zweites Volksreferendum über die Grundsatzfrage eines EU-Beitritts, wie das nicht nur von den Liberal Democrats, sondern auch von verschiedenen Gruppierungen bei Labour und selbst unter den Tories befürwortet wird.
Sollte es schliesslich zu einem solchen neuen Referendum kommen, so würden nach dem jetzigen Stand der Meinungsumfragen diesmal die Remainers (also die Befürworter einer EU-Mitgliedschaft) die Oberhand gewinnen. Wie der Anti-EU-Demagoge Boris Johnson bei einem solchen Ergebnis dann noch an der Regierung bleiben könnte, ist kaum vorstellbar.
Wie immer man es dreht und wendet: Der Wuschelkopf Johnson mag beste Chancen haben, in den nächsten Wochen die Nachfolge von Theresa May als Regierungschef zu übernehmen. Aber mindestens ebenso gross sind seine Risiken, bei der grossspurig versprochenen Lösung des Brexit-Knotens sich und seine Tory-Partei politisch in den Graben zu fahren.