Ein starker Satz: „Am 25.Januar 2017, wenige Tage nach der Amtseinführung von US-Präsident Donald Trump, geschahen zwei Dinge: Der Dow Jones Index der New Yorker Börse erreichte unter dem Jubel der Anleger erstmals die Schwelle von 20’000 Punkten. Zugleich zeigten die Zeiger der „Weltuntergangsuhr“ („Doomsday Clock“) auf zweieinhalb Minuten vor zwölf – und damit so nah an Mitternacht heran, wie seit dem Zünden der ersten US-Wasserstoffbombe 1953 nicht mehr.“
Kompakte Darstellung
Fabian Scheidler, freischaffenden Autor, beginnt sein Buch „Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen“ mit einem Paukenschlag. „Freudentaumel der Anleger“, schreibt Scheidler, und „nahende Mitternacht für die Menschheit“ – deutlicher lasse sich nicht beschreiben, dass sich unser Wirtschaftssystem „auf Crashkurs mit dem Planeten und seinen Bewohnern“ befinde.
Vorab: Alles, was Fabian Scheidler auf seinen 331 Seiten beschreibt, ist eigentlich bekannt. Verschwendung der Ressourcen, Wettrüsten, Klimakatastrophe, zunehmende Migration, Entfesselung der Finanzmärkte. Aber in dieser Kompaktheit der Darstellung, in einem solchen verdichteten Zusammenhang, welchen der Autor bietet, ist die Bedrohung der Menschheit selten zu lesen.
Zweiteilung der Welt
Der Autor beginnt, historisch vollkommen richtig, mit der – wie er es sieht – „Zweiteilung der Welt“, die mit dem beginnenden Kolonialismus vor 500 Jahren, mit der europäischen „Entdeckung“ der Welt und der anschliessenden Besiedlung und Ausbeutung fremder Kontinente begonnen habe. Die Folgen heute seien weitere Ausbeutung zum Beispiel Afrikas und weitreichende Privilegien für die Erben der Kolonisatoren. Europäer und Amerikaner etwa könnten für inzwischen spottbillige Flugpreise, meistens ohne Visum, in alle Ecken der Welt gelangen, während etwa Afrikaner, jedenfalls solche, die nicht den korrupten Oberschichten angehörten, lebensgefährliche Fussmärsche durch Wüstengebiete und noch gefährlichere Fahrten über das Mittelmeer riskieren müssten. Ohne diese Zweiteilung der Welt, so der Autor, könne die „Megamaschine“, wie er die westliche Zivilisation nennt, nicht existieren. Diese Zivilisation beruhe darauf, dass der Süden die Rohstoffe für die Industrie des Nordens liefere.
Freiheit, liberale Weltordnung, wie sie etwa auf der Münchner Sicherheitskonferenz alljährlich propagiert würden, bedeuteten im Grunde, dass der Norden sein Kapital frei über den Erdball bewegen könne, während die Grenzen für Menschen aus dem Süden ständig undurchlässiger würden. Das Argument, Europa könne nicht so viele Flüchtlinge aufnehmen, weil dann viele kulturelle Parallelgesellschaften entstünden, weist der Autor mit einem netten, aber durchaus nicht ganz abwegigen Argument zurück: „Aber tatsächlich haben eine badische Bäuerin, ein Schuhverkäufer aus Eisenhüttenstadt, ein Banker aus Frankfurt, ein Hippie aus dem Wendland und eine Filmproduzentin aus Berlin meist ziemlich wenig gemeinsam. Ihre Werte und Lebensentwürfe, die Musik, die sie hören, die Feste, die sie feiern, die Orte, die sie im Urlaub besuchen, könnten unterschiedlicher nicht sein.“
Die Megamaschine
Die „Gemeinschaft“ aus diesen so verschiedenen Menschen seien, dem Historiker Benedict Anderson zufolge, „eingebildete Gemeinschaften“. Der Chimäre einer „Volksgemeinschaft“ nachzujagen, die schon so viel Schrecken über die Welt gebracht habe, sei ein Irrweg, statt dessen gelte es „Gemeinschaften vor Ort“ aufzubauen, welche „Menschen verschiedener Herkunft miteinander in Verbindung bringen“.
Die „Megamaschine“, welche die Welt allmählich ins Chaos stürze, wird, nach Auffassung des Autors, weltweit durch staatliche Subventionen am Laufen gehalten.
- die Erdöl- und Gasindustrie nach Angaben der Internationalen Energieagentur mit 500 Milliarden Dollar jährlich;
- die Flugzeugbranche durch den Bau von Flughäfen mit öffentlichen Mitteln und durch die Nichtbesteuerung von Flugbenzin;
- viele Banken, die nach der Finanzkrise von 2008 mit öffentlichen Geldern gerettet worden seien;
- die Pharmaindustrie durch öffentliche Forschungsaufträge;
- die Atomindustrie laut einer Greenpeace-Studie bis jetzt mit insgesamt 200 Milliarden Dollar;
- die Rüstungsbranche durch einen aufgeblähten Verteidigungshaushalt;
- der Staat selbst, dessen Gelder für die Entwicklungshilfe etwa zum grossen Teil wieder ins Land zurückflössen;
- die deutsche Versicherungsindustrie, die von der „Riesterrente“ nicht unerheblich profitiere;
- die Landwirtschaft mit immensen EU-Fördermitteln, von denen grosse Summen von Agrarkonzernen abgegriffen würden;
- schliesslich die Autoindustrie, der fast kostenlos eine riesige Infrastruktur zur Verfügung gestellt werde, welche allein durch die KFZ-Steuer nicht bezahlt werden könne.
Sozialismus für Reiche
Der Autor nennt diese Entwicklung „Sozialismus für Reiche“ oder auch „Neofeudalismus“. Den oberen Schichten sei es gelungen, sich ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ zu sichern. Dagegen müssten in den grossen deutschen Städten viele Menschen fast die Hälfte ihres Einkommens für Miete ausgeben. Das sei ein Betrag, der weit über die Instandhaltung und Modernisierung der Wohnungen hinausgehe und die berechtigte Gewinnerwartung der Eigentümer bei weitem übersteige. „Die Konzentration des Wohneigentums ist ein zentrales Mittel, um einen gewaltigen Geldfluss von der Unter- und Mittelschicht in Richtung der grossen Vermögen aufrechtzuerhalten, der so gut wie nichts mit der Produktion und dem Verkauf von Gütern und Dienstleistungen zu tun hat.“
Übrigens hat diese Umverteilung von unten nach oben – etwa nach den Worten von Professor Heinz-Josef Bontrup (Westfälische Hochschule Gelsenkirchen) und Professor Mohssen Massarrat (Universität Osnabrück) – erst jenes Kapital geschaffen, mit welchem die Profiteure dieser Entwicklung den Finanzmarkt, diese von der Realwirtschaft abgekoppelte fast virtuell zu nennende Wirtschaftswelt, erfinden konnten. Dieser Finanzmarkt geriet dann 2008 mit der Pleite der Bank Lehman Brothers in seine bisher grösste Krise. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und ihr damaliger Finanzministers Peer Steinbrück (SPD) mussten den deutschen Sparern seinerzeit garantieren, dass ihre Einlagen sicher seien.
Geld um des Geldes willen
Auch die Vernetzung der Welt durch die so genannten Smartphones sieht der Autor kritisch. Diese kleinen Apparate seien zwar eine bemerkenswerte technische Entwicklung; aber mit Hilfe der vom Staat abgegriffenen Daten auf Facebook und Twitter sei es etwa dem Sissi-Regime in Ägypten gelungen, Dissidenten schnell aus dem Verkehr zu ziehen. „Wie der Wikileaks-Gründer Julian Assange treffend feststellt“, schreibt der Autor, „haben Telekommunikationskonzerne und Nachrichtendienste längst ein schlüsselfertiges System für einen totalitären Staat geschaffen.“
Als ebenso fatal sieht der Autor jene wirtschaftliche Entwicklung, in welcher die „Megamaschine“ einen Zustand geschaffen habe, in dem es im Wirtschaftsleben zum grossen Teil darum gehe, aus Geld noch mehr Geld zu kreieren. „Dieses Prinzip ist tief in unsere mächtigsten Institutionen eingeschrieben, etwa in Aktiengesellschaften, Fonds, Banken und viele mehr“, schreibt der Autor. Umgekehrt hätten sich „die Vermögenden sehr wirkungsvoll politischen Einfluss durch Lobbymacht, Medienbeeinflussung, Korruption und Drehtüreffekte zwischen Politik und Wirtschaft, Staat und Kapital“ geschaffen.
Ausweg?
Wenn heute acht Männer so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, dann, schreibt der Autor weiter, „geht das nicht auf besondere Tüchtigkeit und Genialität dieser acht Personen zurück, sondern auf jahrhundertelange Raubzüge und Enteignungen von den gewaltsamen Einhegungen des Gemeindelandes im 16. und 17.Jahrhundert über die Landnahmen der Kolonialherrschaft bis zur Privatisierung öffentlicher Güter. Auch dass die Aktionäre eines Unternehmens wie Vonovia in Deutschland 400’000 Wohnungen besitzen, während die Hälfte der Bundesbürger überhaupt kein Wohnungseigentum hat, ist das Ergebnis einer langen Geschichte physischer und struktureller Gewalt.“
Gibt es einen Ausweg? Autor Fabian Scheidler zitiert den Ökonomen Christian Felber. Dieser habe das Prinzip der „Gemeinwohl-Ökonomie“ vorgestellt. Danach müssten Betriebe anstelle von reinen Finanzbilanzen „Gemeinwohl-Bilanzen“ vorstellen, „die Aufschluss darüber geben, was das Unternehmen für Wirkungen auf alle von ihren Aktivitäten betroffenen Menschen und Ökosysteme hat, was es also für die Mitarbeitenden, die Zulieferer, die Anwohner, den Klimaschutz, die Arteinvielfalt“ tue. Der Clou dieses Modells sei es, dass etwa bei der Besteuerung solche Firmen bevorzugt würden, die positive Gemeinwohl-Bilanzen vorlegen könnten.
Mangelndes Vorstellungsvermögen
Der Autor legt eine Fülle weiterer unkonventioneller Anregungen vor: So solle das Bankensystem auf öffentlich-rechtliche Sparkassen und Gemeinschaftsbanken konzentriert werden; dadurch könne man verhindern, dass das Grossbankensystem abermals einem Crash entgegensteure, der den Staat verpflichte, diese Banken erneut mit Steuermitteln zu retten; in der Agrarpolitik müssten kleine Einheiten bevorzugt und der Einfluss der Grosskonzerne zurückgedrängt werden.
Auch müsse das Welthandelssystem vom „Kopf auf die Füsse“ gestellt werden: „Anstelle einer ständigen Ausweitung des Welthandels lautet das Ziel Regionalisierung – zum einen, um unsinnige Transport- und Umweltkosten zu sparen, zum anderen, um die Resilienz der Regionen gegenüber weltwirtschaftlichen Turbulenzen zu stärken. Das bedeutet nicht Abschottung und schon gar nicht Nationalismus, sondern ein vernünftiges Mass für Handelsströme, das sich am sozialen und ökologischen Nutzen orientiert“, schreibt der Autor.
Grosse Vorstellungen, unrealistisch werden viele sagen, ja linksradikal, kommunistisch könnten Vorwürfe lauten. Aber halt. Der Autor will die „Schranken unserer Vorstellungskraft“ öffnen: „Nach 500 Jahren Megamaschine und Jahrzehnten Neoliberalismus ist unsere soziale Phantasie amputiert. Wirtschafts- und Lebensformen die nicht auf individueller Nutzenmaximierung basieren, können wir uns nur noch schwer vorstellen. ... Was wir für realistisch und was wir für unrealistisch halten, ist wesentlich von ideologischer Macht geprägt“, schreibt der Autor.
Zukunftsthemen
Um diese Vorstellungskraft zu revitalisieren, fordert der Autor auch eine Wende in den Medien. Publikumsräte sollten dafür sorgen, dass „Themen, die unsere Zukunft bestimmen, wie Klimawandel, die Gefahren von Rüstung und Atomwaffen und die Ungleichheit der Eigentumsverhältnisse“ einen zentralen Platz in den Programmen erhalten „und zwar zu den Hauptsendezeiten“.
Zum Schluss legt der Autor ein Programm von sechzehn Punkten vor, mit welchem er die Zerstörung der Welt durch die Megamaschine stoppen will – von Punkt eins, Streichung aller Subventionen für umwelt- und gemeinwohlschädigende Aktivitäten, bis zu Punkt 16, Einführung von nicht-kommerziellen Medien, welche alle die im Buch angeschnittenen Themen behandeln sollten.
Viele der Darlegungen klingen sicher unrealistisch bis utopisch. Andererseits: Da die weitere Ausbeutung des Planeten durch die „Megamaschine“ zum „Chaos“ auf dem Planeten führen würde, ist es an der Zeit, sich mit den Gedanken des Autors, welche schon oft auch anderswo geäussert wurden, ernsthaft zu befassen.
Fabian Scheidler: Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen. Promedia Verlag, Wien 2017.