Es gibt Bücher, von denen man sich fragt, warum sie nicht schon viel früher geschrieben worden sind. In die Welt der Banker und Finanzspekulanten ist – zum Beispiel – so richtig noch niemand eingetaucht. Dieses Manko hat jetzt der holländische Journalist Joris Luyendijk behoben. Mit Hilfe der britischen Tageszeitung The Guardian hat er etwa 200 Mitarbeiter der Londoner City über ihre Rolle befragt. Der Titel seines bedeutenden Werkes nimmt bereits ein Ergebnis seiner Recherche vorweg. Seinem „Weg in die Welt der Banker“ gibt er den bezeichnenden Titel: „Mit den Haifischen schwimmen.“ Und als Leitlinie stellt er seinem Werk ein Zitat des Autors Philip Augar voran: „Die wahrhafte Verschwörung auf dem Sektor der Finanzen ist der Klang des Schweigens.“ 1)
Nicht überraschend ist es deshalb, dass Joris Luyendijk gleich am Anfang seiner Recherche eine bittere Erfahrung mitteilt: „Die Welt der Finanzen wird von einem Schweigecode regiert. ... Bankangestellte riskieren ihren Job zu verlieren, gerichtlich belangt zu werden und Schaden an ihrer Reputation zu erleiden, wenn sie dabei ertappt werden, dass sie mit der Presse sprechen. Versuchen Sie einmal, einen neuen Job in der City zu finden, nachdem Kündigungsklauseln ausdrücklich betonen, dass man absolut nichts über seine Erfahrungen in der eigenen Firma enthüllen darf.“
Schiere Angst
Joris Luyendijk, einst Nahostkorrespondent einer holländischen Zeitung, zieht sogar einen Vergleich mit dem Irak Saddam Husseins, wo, wie er schreibt, man Menschen durchaus zum Sprechen habe bringen können - vorausgesetzt, dass sich diese Interviewpartner sicher fühlten. Und in der City von London? Dort herrsche schiere Angst vor dem Erkanntwerden: „Schreiben Sie bitte nicht, dass ich meinen Tag mit einer Tasse Tee beginne, denn ich bin der einzige, der das auf meiner Etage tut“, bat ein Gesprächspartner den Autor.
Und die Qualifikation für den Job? Eine Mitarbeiterin erzählte dem Autor, sie müsse ein Kind mit ernähren und habe vor ihrer Bewerbung nicht einmal den Unterschied zwischen Kapital und Schuldverschreibung gekannt. Und ein anderer sagte, ein Job in der City sei mehr oder weniger ein „Ausdauersport“. Viele seien in ihre Jobs hineingeschliddert: „Jeder kann tun, was ich tue.“
Mit 25 Jahren eine Million Pfund
Einmal sprach der Autor mit einem gerade einmal dreissig Jahre alten Banker. Und er hörte dies: Universitätsabsolventen, gerade einmal 22 Jahre alt, begönnen bescheiden im Range eines Analysten, dann würden sie „Associates“; solche, die blieben, würden schon im Alter von dreissig Jahren noch einmal befördert. Und einige wenige Jahre später könne man auf ihren Visitenkarten den Titel „Direktor“ oder „Vize-Präsident“ lesen.
Ein anderer erzählte vom Glanz seines Jobs, dem Geld und den Mädchen: „Sie beginnen im Alter von 22 Jahren, und Sie können sich umgehend beweisen. Ich kenne Leute, die verdienen eine Million Pfund im Jahr, wenn sie 25 sind. Es sind nicht sehr viele, aber es passiert. Und das ist so ein Gegensatz zu anderen Jobs.“
Subtiles System von Codes
Jeder weiss, wie er sich zu erkennen gibt in der City – oder wie er jemanden erkennt, der auch in der City arbeitet: „Die City, langsam begriff ich es“, sagte ein Banker, „ist nur menschlich. In allen ihren ungeschriebenen Gesetzen, ihren Dresscodes, ihren inneren Hierarchien, ähnelt die City einem Dorf oder einer Sammlung von Stämmen. Insider identifizieren sich durch ein subtiles System von Codes und Verhaltensweisen.“
Jedoch: der vornehme Dresscode täuscht. Innerhalb der City herrscht jene Rivalität, wie sie unter Stämmen üblich ist – und so ist die Sprache der Stammesbanker. Aus ihren vornehmen Anzügen klinge oft, schreibt Joris Luyendijk, die „Stimme von Hooligans“. Das Auf und Ab der Märkte verglichen die Banker oft mit den zuckenden Bewegungen der „Unterhose einer Hure“. Gehe ein Geschäft schief, sei der dafür Verantwortliche „fucked“. Militärische Ausdrücke seien an der Tagesordnung. Manche Banker beschrieben ihre Tätigkeit so, als ob sie in „Schützengräben“ arbeiteten, in denen „keine Gefangenen“ gemacht würden.
„Der Anruf von oben“
Doch dem scheinbaren Glanz der City wollen sich wenige entziehen. Es gehört geradezu zum guten Ton, die City mit einer Aura des Glanzes zu umgeben. Gordon Brown, damals Premierminister von der Labour Party, sagte 2007: „Der finanzielle Dienstleistungssektor in Britannien und in der City von London im Zentrum dieses Sektors ist ein grossartiges Beispiel einer höchst fähigen ... von ihrem Talent geleiteten Industrie, welche zeigt, wie wir uns in einer Welt der globalen Konkurrenz auszeichnen können.“
Was Gordon Brown nicht sagte: Überleben im Haifischbecken der City ist eine schwierige Kunst. Fast an der Tagesordnung ist der „Anruf von oben“. Dieser Anruf aus den Führungsetagen der Bank bedeutet oft das Ende der Karriere – das unmittelbare Ende. Jener, der einen solchen Anruf bekommt, weiss meistens, dass dieser Anruf die sofortige Kündigung bedeutet. Zuvor haben die Chefs festgestellt, dass auf zu vielen Stellen Mitarbeitende sitzen, die sie als „redundant“ bezeichnen. Wer einen solchen „Anruf von oben“ bekommt, darf anschliessend meistens nicht einmal mehr seinen Computer benutzen. Dezent wird er vom Sicherheitspersonal zum Ausgang geführt. Ende einer Karriere – zumindest in jener Bank, die ihm zuvor so viel versprochen hatte.
„Redundancy Meetings“
Autor Joris Luyendijk sprach mit einer Managerin, zu deren Aufgaben es gehört, Leute von jetzt auf gleich zu feuern, also solche „Redundancy Meetings“ zu führen. Täglich Mitarbeitende zu entlassen sei ein wenig, sagte sie, „seelenzerstörend“. Da aber ihre Bank in globalem Masse arbeite, seien für sie solche Redundancy Treffen keine Seltenheit.
Manchmal müsse sie 15 solche Entlassungstreffen halten – von sieben Uhr morgens bis 10 Uhr abends. „Sie sitzen da und versuchen, die emotionale Antwort des nächsten vorauszusagen. Manche werden sogar handgreiflich. Ich muss die ganze Zeit auf der Hut sein. Es ist ermüdend.“ Ausländer, denen gekündigt werde, erzählte die Managerin weiter, müssten das Land innerhalb von dreissig Tagen verlassen. „Stellen Sie sich vor – diese Leute haben Freunde, Freundinnen ... Oft haben sie schon ihren Bonus ausgegeben, den sie erwartet hatten.“
Erstarrt vor dem Computer
Und dann der grosse Crash, die Pleite der Bank Lehman Brothers am 15. September 2008. Wie reagierten die Menschen in den Hochhäusern, in den Glaspalästen in den Büros der City? Autor Joris Luyendijk fasst die Stimmung so zusammen: „Einige Banker bezeichneten die Stunden, Tage und Wochen nach dem Kollaps von Lehman Brothers als die erschütterndste Periode ihrer Karriere, wenn nicht ihres Lebens. Sie berichteten von Kollegen, die erstarrt vor ihren Computern sassen, paralysiert, unfähig zu handeln sogar in Augenblicken, in denen leichtes Geld zu verdienen war.“
Manche hätten ihre Familien angerufen und diese aufgefordert, so viel Geld wie möglich aus den Cashmaschinen zu holen, in den Supermarkt zu gehen und Vorräte anzulegen, Gold zu kaufen, die Kids aufs Land zu evakuieren. Viele hätten dagesessen, erniedrigt durch die Erinnerung an ihre Verletzbarkeit. Einer sagte: „Das war unheimlich, beängstigend. Ich meine nicht beängstigend wie im Film. Nein, wirklich beängstigend.“
Gewehre gehortet
Manche Banker, berichtet Joris Luyendijk, bezeichneten die Pleite der Bank Lehman Brothers als finanzielles Equivalent einer nuklearen Kernschmelze oder des Armageddon, des biblischen Endes der Welt. In ihrem Buch Masters of Nothing: How the Crash Will Happen Again Unless We Understand Human Nature berichten die Autoren Matthew Hancock und Nadhim Zahawi, inzwischen konservative Mitglieder des Unterhauses, dass manche Banker tatsächlich Gewehre gehortet hätten – „bereit, sich in Bunkern zu verschanzen für den Fall, dass die Zivilgesellschaft kollabieren würde.“
Und ein anderer Autor, den Joris Luyendijk zitiert, George Cooper, schrieb, der Kollaps einer Bank hätte das gesamte Weltfinanzsystem zum Stillstand bringen können: „Diese finanzielle Krise kam dem Kollaps des globalen finanziellen Systems nahe.“ Joris Luyendijk bilanziert: „Al Qaida gelang es in keiner Weise, in den Attacken vom 11. September (2001) auf das World Trade Center und das Pentagon das Leben, wie wir es leben, zum Erliegen zu bringen; aber fast schaffte das der finanzielle Sektor sieben Jahre später.“
„Wir vergessen uns selbst“
Dieses Desaster liegt auch daran, dass Banker oft wie besessen arbeiten – und selbst jene Welt, in der sie leben und arbeiten, oft vergessen. Eine Bankerin sagte dem Autor: „Indem wir so lange und so viele lange Stunden arbeiten, vergessen wir uns selbst komplett. Und das ist das genaue Gegenteil von Individualismus.“
Der Autor hatte auch Gelegenheit mit Bankern zu sprechen, die von ihrer Arbeit desillusioniert waren und aus freien Stücken ausgeschieden sind. „Investment Banking“ sagte einer von ihnen, „ist eine Falle und eine Sucht. Die Belohnung ist gross, dennoch oft ungewiss ... Da gibt es diese Leute, die schon hinter dir stehen und deinen Job wollen. Und da ist ist die Leere, die mit der Sucht kommt.“
Der Drang, sich selbst vorwärts zu bringen
Ein anderer Desillusionierter erzählte dem Autor: „Mein Zimmerkamerad arbeitet ebenfalls im Finanzsektor Ich habe ihn weinend vor Erschöpfung nach Hause kommen sehen.“ Und dann habe er gefragt, warum wir uns dieses alles antäten. „Mein Eindruck ist, dass die Mehrheit jener, die im Finanzsektor arbeiten, den Drang haben, sich selbst vorwärts zu bringen.“
Vor allem aber bleibt bis heute die Frage: Fühlen sich die Banker schuldig am Super-GAU, am Kollaps von Lehman Brothers? Joris Luyendijk schreibt: „Nach ihrer Verantwortung für den Crash befragt, konnten sie sich all jenen anderen in der City anschliessen, die sagten Ich war es nicht.“
Blosse Reparaturen genügen nicht
Autor Joris Luyendijk lässt seine Leser in keinem Zweifel, dass – seinen Recherchen nach – ein Kollaps wie jener der Lehman Brothers und dessen Folgen jederzeit wieder möglich sei. Nur: nicht ausgemacht sei es, dass ein solcher Kollaps letztlich doch wie 2008 überwunden werden könne und nicht in einer Kernschmelze des globalen Finanzsystems enden werde.
Der Autor plädiert für eine komplette und gründliche Instandsetzung des gesamten Systems. Blosse Reparaturen genügten nicht, es müsse „eine komplett neue DNA“ geschaffen werden. Aber ist der Mensch zu einer solchen Umkehr überhaupt fähig? Joris Luyendijk ist skeptisch. „Menschliches Verhalten ist weitgehend von Leistungsanreizen bestimmt. Und diese absurd hohen finanziellen Anreize schickten die Banker und die Banken weiterhin in die falsche Richtung.
Das Problem liegt im System
Der Autor schreibt: „Packten wir alle Angestellten der City auf eine Wüsteninsel und ersetzten wir diese viertel Million Menschen mit neuen Leuten, sähen wir umgehend dieselbe Art von Missbrauch und Dysfunktionalität. Das Problem liegt im System. Statt in all unserem Ärger einzelne Banker dafür zu tadeln, dass sie nach ihren perversen (finanziellen) Anreizen handeln, sollten wir unsere Energie darein investieren, dass wir solche Anreize abschaffen.“
Doch die Aussicht darauf ist gleich Null – wie der Autor resigniert feststellt. Er schreibt, dass es letztlich gleichgültig sei, ob in Grossbritannien Labour oder die Konservativen, in Deutschland die SPD oder die CDU und in den USA Demokraten oder Republikaner regierten. „Warum“, fragt der Autor, „haben es westliche Demokratien nicht fertig gebracht, Lösungen für das drängendste Problem unserer Zeit zu formulieren?“
„Wahlkampfspenden“
Zwar fände man in den politischen Parteien durchaus Menschen mit einem scharfen Auge auf das, was schief laufe. Nur bestünde das Problem, dass diese Leute sagten: „Was ist der Nutzen, wenn ich alleine den Finanzsektor angreife? Was, denken Sie, wird mit meiner Position innerhalb meiner Partei geschehen – oder mit meiner Partei selbst?“
Die USA, Frankreich und Grossbritannien erlaubten es den Bankern, schreibt der Autor, politische Macht zu kaufen. In der feinen politischen Sprache würden diese Gelder als „Wahlkampfspenden“ bezeichnet – und nicht als „Korruption“. So hätten in den USA Exfinanzminister Timothy Geithner und Exaussenministerin Hillary Clinton Vorträge bei der Bank Goldman Sachs gehalten. Die Bezahlung für jeden der beiden Redner: 200'000 Dollar. Und Expremier Tony Blair verdiene in England als Berater einer Megabank weit mehr als sein Gehalt als Regierungschef gewesen sei.
Gekaperte Politik
Autor Joris Luyendijk spricht von „Capture“, davon, dass die Bankenwelt die Politik „gekapert“ habe. Ist die Misere, fragt der Autor, also das Resultat einer durch und durch legalen Korruption? „Die Vorstellung, dass der Finanzsektor die Apathie der Politiker vor 2008 gekauft habe, schliesst ein, dass das Top-Management in den Banken erkannt hat, was für eine Unordnung man gerade im Begriff war zu schaffen.“
Am Schluss kommt der Autor zu einer resignierenden Erkenntnis. Megabanken operierten auf globaler Basis, die Politik aber sei weiterhin auf nationaler oder regionaler Basis organisiert. „Finanzinstitute“, schreibt der Autor, „können Länder und Länderblöcke gegeneinander ausspielen, und dies tun sie schamlos.“
Abermals zur Kasse gebeten
Schliesslich stellt Joris Luyendijk die Frage, ob Globalisierung überhaupt mit nationaler Demokratie vereinbar sei. „Wie können wir ohne eine legitime globale Regierung den globalen Finanzsektor unter Kontrolle bringen? Und wenn man glaubt, dass eine solch globale Regierung undurchführbar oder unerwünscht ist, bedeutet dies nicht gleichzeitig, dass global operierende Finanzinstitutionen einer Grösse, die nationale Regierungen zu Zwergen machen, unhaltbar sind?“
Bis heute, folgert der Autor resignierend, seien keine Massnahmen getroffen worden, einen Crash wie jenen von 2008 zu verhindern. Der nächste Crash werde deshalb wieder den Finanzsektor als Gewinner sehen. „Das heisst, dass der Rest von uns abermals zur Kasse gebeten wird.“
Joris Luyendijk: Unter Bankern. Eine Spezies wird besichtigt. Verlag Klett Cotta Tropen. Stuttgart 2015, 19.95 Euro
1) Dieser Rezension liegt die englische Ausgabe zugrunde.