Dreissig Mal hat das Parlament versucht, einen Staatspräsidenten zu wählen. Dreissig Mal schlug der Versuch fehl. Jetzt endlich gelang es: Libanon, der Zedernstaat, hat nach 29 Monaten wieder ein Staatsoberhaupt.
Der Präsident ist verfassungsmässig der wichtigste Mann im Staat. Gemäss den Mehrheitsverhältnissen im Parlament bestimmt er einen sunnitischen Ministerpräsidenten.
Unversöhnliche Blöcke
Warum gelang es fast zweieinhalb Jahre lang nicht, einen Staatspräsidenten zu bestimmen? Im Parlament standen sich zwei Blöcke unversöhnlich gegenüber.
- Bei dem einen handelte es sich um die militante und bewaffnete schiitische Gruppe „Hizbullah“ und ihre politischen Verbündeten. Dieser Block trat unter dem Namen „Bündnis des 8. März“ auf.
- Der andere bestand aus einer Gruppierung von Sunniten, die von Saad Hariri, dem Sohn des früheren, 2005 ermordeten Ministerpräsidenten Rafik Hariri geleitet wurde. Auch sie verfügte über ihre politischen Bündnispartner. Hariri und seine Anhänger nannten sich „Bündnis des 14. März“.
Hizbullah wird vorgeworfen, den Mord an Vater Hariri organisiert und durchgeführt zu haben. Ein Sondergerichtshof im Haag sollte seit Jahren darüber entscheiden.
Kooperation mit Hizbullah
Die libanesischen (christlichen) Maroniten waren gespalten. Einer ihrer Anführer, General Michel Aoun, der am Ende des libanesischen Bürgerkrieges eine militante Rolle gespielt hatte, hatte sich nach seiner Heimkehr aus dem Exil in Paris 2006 mit dem Hizbullah verbündet.
Damals wurde ein gemeinsames Dokument zwischen seinen Anhängern und der Hizbullah-Führung ausgehandelt und publiziert. Dieses sah vor, dass die Korruption mit allen Mitteln bekämpft und dass das Land ein neues Wahlsystem erhalten sollte. General Aoun war danach stets der Präsidentschaftskandidat des Hizbullah-Blocks. Doch ihm stand der Block mit Saad Hariri gegenüber. Deshalb war die Wahl eines Staatsoberhaupts blockiert.
Saudi-Arabiens Kalter Krieg gegen die Schiiten
Saad Hariri und seine Verbündeten wurden jahrelang von Saudi-Arabien finanziell und politisch unterstützt. Riad ging es in seinem Kalten Krieg gegen die Schiiten vor allem darum zu vermeiden, dass die Hizbullah-Schiiten ihre Macht in Libanon festigen und ausbauen konnten.
Im Syrienkrieg steht Hizbullah, gemeinsam mit Iran, aktiv und offiziell hinter dem Regime Asads.
Hariri gegen Asad
Der Block Hariris hingegen trat in den ersten Kriegsjahren, zusammen mit Saudi-Arabien, für die überwiegend sunnitischen Rebellen ein und versorgte sie mit Waffen. Auch Kämpfer aus Tripolis stiessen damals zu den syrischen Rebellen.
Doch Asad war es gelungen, mit Hilfe der Hizbullah-Milizen den rund um Libanon liegenden syrischen Grenzraum zu beherrschen. Deshalb erlahmte die Unterstützung des libanesischen Harari-Blocks für die syrischen Rebellen. Diese wurden seit jeher eher aus der Türkei oder Jordanien unterstützt.
Saudi-Arabien verärgert über Libanon
Die innerlibanesischen Machtverhältnisse änderten sich im Lauf dieses Jahres wegen der Entwicklungen in Saudi-Arabien. Riad war verärgert über Libanon. Dies deshalb, weil die libanesische Regierung, in welcher Hizbullah eine Sperrminderheit besitzt, sich weigerte, gegen die Übergriffe auf die saudische Botschaft in Teheran zu protestieren. Diese war im vergangenen Januar angegriffen und teilweise zerstört worden. Dies, nachdem Saudi-Arabien den schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr hingerichtet hatte. Nimr al-Nimr war eine führende Figur der schiitischen Geistlichen in Saudi-Arabien.
Die meisten sunnitischen Staaten hatten gegen den Sturm auf die saudische Botschaft in Teheran protestiert. Einzig Libanon hatte dies unterlassen.
Keine von Riad finanzierten Waffen mehr
Als Folge davon „revidierte“ die saudische Regierung nach offiziellen Angaben „ihr Verhältnis zu Libanon“. Saudi-Arabien hatte der libanesischen Armee seit langem französischen Waffen im Wert von drei Milliarden Dollar versprochen. Diese saudische Hilfe wurde jetzt gestrichen.
Die libanesische Armee gilt – was die Ausrüstung und die Anzahl der Kämpfer betrifft – den Milizen von Hizbullah unterlegen. Eine bessere Bewaffnung hätte die Armee gegenüber Hizbullah aufgewertet. Der Stopp der saudischen Hilfe könnte einen zusätzlichen Grund haben. Riad war sich nicht sicher, ob die mit saudischen Waffen verstärkte libanesische Armee dann auch wirklich auf Seiten Saudi-Arabiens gestanden hätte – oder, ob sie stillschweigend oder ausdrücklich mit Hizbullah – und Iran im Hintergrund – zusammengearbeitet hätte.
Hariri – zahlungsunfähig
Zu diesem Bruch zwischen Libanon und Saudi-Arabien kam ein Fiasko auf privater wirtschaftlicher Ebene hinzu. Die in Saudi-Arabien tätige grosse Baugesellschaft „Roger Saudi-Arabien SA“ kam in finanzielle Schwierigkeiten. Das Unternehmen war von Vater Rafik Hariri aufgebaut worden. Sein Sohn erbte die Gesellschaft.
Doch der saudische Staat strich immer mehr Grossaufträge für das Hariri-Unternehmen. Grund dafür waren saudische Sparmassnahmen, die Riad ergriffen hatte, nachdem der Ölpreis gesunken und das Budgetdefizit angeschwollen war. Roger SA scheint zurzeit zahlungsunfähig zu sein, obwohl eine offizielle Bankrotterklärung nicht vorliegt.
Doppelte Bedrohung
Die schweren finanziellen Schwierigkeiten Saad Hariris wirken sich auch auf die Politik in Libanon aus. Sein Vermögen diente ihm dazu, seine „Partei“, ihre Anhänger und „Klienten“ zu finanzieren.
Plötzlich stand er vor einer doppelten Bedrohung: Einerseits verzichteten die Saudis darauf, ihn und seine Partei in Libanon weiter zu unterstützen. Anderseits sah er mittelfristig seine Stellung als Partei- und Koalitionsführer wegen seiner finanziellen Verluste in Saudi-Arabien in Gefahr.
Hariris dramatische Kehrtwende
Angesichts dieser Bedrohungen tat Saad Hariri einen entscheidenden Schritt. Er sprang über seinen Schatten (und auch über den seines ermordeten Vaters). Er erklärte sich einverstanden damit, dass General Aoun, der langjährige und bisher stets von ihm bekämpfte Kandidat, Präsident würde.
Er wies die Abgeordneten seiner Koalition an, nun für Aoun zu stimmen. So wurde der nun 81-jährige General Aoun gewählt. Damit wird der Einfluss der von Iran unterstützten Hizbullah gestärkt.
Die Schiiten wittern Morgenluft
Wahrscheinlich wird Saad Hariri jetzt im Gegenzug als Ministerpräsident eingesetzt werden. Die gleiche Parlamentsmehrheit, die nun für Aoun gestimmt hatte, wird jetzt vermutlich auch für ihn stimmen.
In einem Jahr stehen Parlamentswahlen an. Voraussichtlich wird Hizbullah mit „seinem“ Präsidenten Aoun jetzt darauf dringen, noch vor den Wahlen ein neues Wahlgesetz zu verabschieden. Dieses hatte bisher die Schiiten klar benachteiligt. Hizbullah wird auf ein Gesetz drängen, das den Schitten nicht nur wie bisher eine Sperrminderheit im Parlament einräumt, sondern ihnen die Möglichkeit eröffnet, die Mehrheit zu erlangen.
Ob und wie weit dies gelingen wird, bleibt noch offen. Doch jedenfalls kann man sicher sein, dass Israel, für welches der Hizbullah eine Bedrohung darstellt, die Entwicklungen in seinem nördlichen Nachbarland sehr genau beobachten wird.