Seit Samstag heizt er seinen aufmüpfigen Ministern und Senatoren ein. „Ich werde nie nachgeben, diese Regierung muss weg, sie ist ein Unheil für Italien“. Noch am Mittwochmittag fordert er die Senatoren seiner Partei auf, die Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Letta zu stürzen.
Doch dann anderthalb Stunden später der Paukenschlag. Um 13.35 Uhr ruft er seine Parteikollegen mit gekränkter Stimme auf, der Regierung Letta das Vertrauen auszusprechen. Den Senatoren fällt der Kiefer runter. Die Kehrtwende in letzter Minute bedeutet für den einst grossen Silvio eine Erniedrigung und erschreckende Blamage.
Kaiser ohne Kleider
Berlusconi, der erfolgsgewohnte Milliardär, dem seine vielen Anhänger zwanzig Jahre lang zu Füssen lagen, steht plötzlich da wie ein Kaiser ohne Kleider. Für Spott und Häme muss er jetzt nicht sorgen. Denn sein abrupter Rückzieher ist nichts Anderes als ein purer Verzweiflungsakt.
Kurz vor seinem Gesinnungswandel am Mittwoch wird ihm ein Zettel zugesteckt. Darauf steht, dass 25 eigene Senatoren für Letta und damit gegen Berlusconi stimmen werden, 24 wollten an der Abstimmung gar nicht teilnehmen. 49 Meuterer also. Ein Sieg Lettas war also gewiss.
Verzweifelter Kraftakt
Der Sozialdemokratische Ministerpräsident Enrico Letta steht seit fünf Monaten einer grossen Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten, Zentristen und Mitgliedern der Berlusconi-Partei vor. Berlusconi und seine treuen „Falken“ drohen seit langem damit, die Regierung stürzen – sollte Berlusconi wegen seiner Verurteilung aus dem Senat ausgeschlossen werden.
Dazu könnte es demnächst kommen. Berlusconi muss nicht nur bald seine einjährige Strafe antreten. Eine Senatskommission wird bald entscheiden, ob er seinen Sitz im Senat verliert. Ein Gericht wird zudem – wahrscheinlich – verfügen, dass er wegen seiner Verurteilung keine politischen Ämter mehr ausüben darf.
Vor diesem Hintergrund schritt er am vergangenen Samstag zu einem verzweifelten Kraftakt. Er beschloss, die Regierung zu stürzen und forderte Neuwahlen. Seine fünf eigenen Minister in der Regierung Letta forderte er auf, sofort zu demissionieren.
Definitiv misslungen
Das hätte er nicht tun sollen. Der samstägliche Coup ist definitiv misslungen und erwies sich als Bumerang. Zum ersten Mal begannen einflussreiche Parlamentarier seiner eigenen Partei gegen ihn zu meutern. „So nicht“, sagte ein Berlusconi-Minister. Bisher gelang es dem grossen Zampano immer, rebellierende Senatoren und Abgeordnete wieder einzufangen und auf Linie zu bringen. Diesmal nicht.
Dramatisch war der Auftritt von Angelino Alfano, den Berlusconi zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Alfano ist Vize-Ministerpräsident und Innenminister. Er galt als ewig getreuer Anhänger seines Übervaters. Doch plötzlich, vorgestern, stellte sich Alfano mit wütenden Worten gegen Berlusconi. Italien brauche in den jetzt schwierigen wirtschaftlichen Zeiten eine stabile Regierung und keinen Regierungssturz.
Kurz darauf sagt er das Gegenteil
Berlusconi glaubte noch zu Beginn der Vertrauensdebatte am Mittwochvormittag, die Rebellen würden dann schon für ihn stimmen. Doch die Sitzung im Senat begann mit einer ersten Demütigung für Berlusconi. Da sassen doch die fünf von ihm entlassenden Minister auf der Ministerbank. Regierungschef Letta hatte sie dorthin gebeten. Letta betrachtete sie als „nicht entlassen“. Berlusconi ahnte Schreckliches.
Dann hörten die Senatoren eine flammende Rede von Ministerpräsident Letta. Er, ein eher spröder und wenig charismatischer Jurist, wuchs über sich hinaus und plädierte für den Fortbestand seiner Regierung. Berlusconis Gesicht verfinsterte sich zunehmend. Doch noch einmal versucht er, das Steuer herumzureissen und fordert ein Votum gegen Letta – und kurz darauf sagt er das Gegenteil und spricht ihm das Vertrauen aus: Opera buffa.
„Die Hosen heruntergelassen“
Berlusconi hatte eingesehen, dass er seine eigenen Senatoren nicht mehr unter Kontrolle hat. Zu viele waren bereit, gegen ihn und für Letta stimmen. Die heutige Kehrwende hatte einzig zum Ziel, ein sofortiges Auseinanderbrechen seiner Partei zu verhindern.
„Berlusconi hat die Hosen heruntergelassen und steht jetzt nackt da - nur mit den Unterhosen bekleidet“, spottet ein linksliberaler Römer Journalist. „Hätte er keine Kehrtwendung vollzogen, wären auch die Unterhosen weg“. Dann wäre die Partei schon jetzt auseinandergebrochen.
Doch es ist zu spät. Die Partei steht – trotz des heutigen Coups – vor der Spaltung. Viele haben einfach genug, nach seiner Pfeife tanzen zu müssen.
Von Berlusconi betrogen
Zu viele Hypotheken kleben an seinen Schuhen: Prozesse und kein Ende, Verurteilung durch das höchste Gericht, Verurteilung im Ruby-Prozess, Verurteilung wegen Schmiergeldzahlungen im Mondadori-Prozess – und vor allem das wahrscheinlich baldige Verbot, politische Ämter auszuüben.
Dazu kommt ein Gesinnungswandel in der italienischen Wählerschaft – und in seiner eigenen Partei. Nicola Piepoli, einer der renommiertesten italienischen Meinungsforscher, konstatiert: „Die Wählerschaft ist immer mehr überzeugt, dass Berlusconi diese Krise verursacht hat, um seine eigenen Probleme zu lösen“. Der Meinungsforscher Antonio Nota sagt, 45 Prozent seiner einstigen Anhänger „fühlen sich von Berlusconi betrogen“. Die Aura des ewig Siegreichen verblasst.
Wieder der Elefant im Porzellanladen
Natürlich wäre Berlusconi nicht Berlusconi, wenn er jetzt hinter dem Ofen sässe und sich sagte: „Ich armer Verlassener“. Er hat jetzt für einen Fortbestand jener Regierung gestimmt, die er vor wenigen Stunden noch stürzen wollte. Das bedeutet, dass die grosse Koalitionsregierung zwischen den Sozialdemokraten, der Berlusconi-Partei und der Zentrumsbewegung plötzlich wieder Bestand hat. Das bedeutet aber auch, dass Berlusconi bei Regierungsgeschäften ein wichtiges Wort mitzureden hat.
Die Linke fürchtet schon, dass er sich wieder wie ein Elefant im Porzellanladen aufführen wird. Er kann die Regierung Letta drangsalieren, ihr drohen, sie lähmen – versuchen, ihr seinen Willen aufzuzwingen.
„Enrico Letta schreibt Geschichte“
Dennoch: „Die Luft ist raus“, sagt ein Römer Journalist. „Berlusconi wird uns noch lange Schlagzeilen bescheren, doch jetzt haftet ihm der Makel des Verlierers an, des Gedemütigten, des Blamierten“. Zum ersten Mal hat der grosse Meister erfahren, dass er sich nicht mehr alles erlauben kann. Wer einmal am Boden lag, hat das Etikett des Unbesiegbaren verloren.
Nichts mehr ist wie vorher. Der Sozialdemokrat Letta, von Berlusconi stets belächelt und nie ernst genommen, ist der Erste, der dem 77-Jährigen eine beschämende Niederlage zugefügt hat. Letta hat durch diesen Machtkampf an Statur und Ansehen gewonnen. Er wird jetzt mutiger gegen Berlusconi auftreten. „Enrico Letta schreibt Geschichte“, konstatiert die linksliberale „La Repubblica“.
Eine Mitte-rechts-Partei ohne Berlusconi
Auch Angelino Alfano hat an Statur gewonnen. Er, der seit Jahren von Berlusconi sowohl auf den Schild gehoben als auch gedemütigt wird, hat zum ersten Mal eine mutige, eigene Rolle gespielt. Vor allem seinetwegen hat Berlusconi einen schmachvollen Rückzieher machen müssen. Wird er sich erneut von Berlusconi einlullen lassen? Oder wird er für seine Meuterei von Berlusconi bestraft werden? Wenn ja, wird er sich wohl endgültig entschliessen, sich vom grossen Kaiman loszusagen.
Berlusconis Schmach fand an diesem Mittwoch kein Ende. Am Schluss der Abstimmung sassen Letta und Alfano vertraut zusammen und hielten sich - vor allen Kameras - die Hand.
Berlusconi weiss, dass einige seiner Leute zum ersten Mal ernsthaft bestrebt sind, eine neue Mitte-rechts-Partei zu gründen – ohne Berlusconi. Im Abgeordnetenhaus – der grossen Kammer – sollen bereits 26 Deputierte sich zu einer eigenen Formation zusammengeschlossen haben. Dutzende andere liebäugeln damit. Auch im Senat sollen ernsthafte Sezessionsbestrebungen im Gang sein.
Noch ist nicht klar, ob es wirklich sofort zu einer Abspaltung kommt. Gelingt es Berlusconi wieder, die Meuterer mit vielen Versprechungen einzugliedern? Selbst wenn es ihm kurzfristig gelänge – die Anti-Berlusconi-Hefe steckt im Teig. Die Zeit arbeitet gegen ihn.
Klar ist, dass eine konstruktive, seriös geführte Mitte-rechts-Partei in Italien grosse Chancen hätte. Eine solche gibt es nämlich nicht. Es gibt nur die Berlusconi-Partei.