Seit der Unabhängigkeit Belgiens wurden die Flamen das ganze 19. Jahrhundert lang von französischsprechenden Belgiern regiert. Die Staatsgründung 1830-31 unter dem Diktat der Grossmächte, selbständig zu sein, wurde nach dem kurzen Freiheitskampf gegen die Niederlande in einer von der frankophonen Elite ad hoc zusammengerufenen Nationalversammlung improvisiert, eingeschlossen den damals demokratischsten Text einer Verfassung in Europa und die Wahl eines Königs aus dem deutschen Kleinfürstentum Sachsen-Coburg-Gotha; Leopold I. erklärte, mit einer solchen Verfassung gerade noch leben zu können. In Flandern sprach die die Bauern dominierende Grossbürgerschaft ebenfalls französisch, die Sprache der Gebildeten, ähnlich wie ein Jahrhundert früher das Berlin Voltaires und das Bern der Patrizier.
Der flämische Nationalismus
Ab etwa 1870 haben dann die Flamen in kleinen Schritten ihre eigene Identität aufgebaut. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich daraus ein flämischer Nationalismus entwickelt, dessen politische und kulturelle Meinungsführer immer wieder von einem „unabhängigen Flandern in einem vereinten Europa“ und der Trennung von Belgien schwärmen. Sie haben in Flandern bis heute konstant an Wählerstimmen zugenommen.
Es stärkte sie, dass sich die wirtschaftliche Überlegenheit Walloniens ab den Fünfzigerjahren ins Gegenteil verkehrte: Die führenden Industrien Walloniens Kohle und Stahl gerieten in die europaweite Krise, in welcher das Öl die Kohle verdrängte und die Leichtmetalle den Stahl. Alle belgischen Kohlenminen verschwanden und in der Stahlindustrie gingen zehntausende von Arbeitsplätzen verloren. Derweil begann Flandern aufzublühen, weil es am Meer lag: Importe, welche aus aller Welt im grossen Hafen Antwerpen ankamen und nebst Belgien auch Norddeutschland und Mitteleuropa bis in die Schweiz versorgten, überflügelten die Inlandwirtschaft. Die Flamen, deren Wirtschaftsführer nun ebenfalls flämisch sprachen (sprechen mussten, weil sie das erste vom brandneuen flämischen Parlament nach der Erlangung ihrer Kulturautonomie 1970 erlassene Gesetz dazu zwang), sie waren arbeitsam, tüchtig, stolz und erfolgreich.
Flandern den Flamen! Ausländer raus!
Politisch parallel bildete sich eine flämisch-nationalistische Partei, der „Vlaams Blok“, der in allen Wahlen grossen Zulauf gewann, aber von allen klassischen Parteien, den Christlichdemokraten, Liberalen und Sozialisten boykottiert wurde, weil er daneben in seinem offiziellen Parteiprogramm auch noch fremdenfeindlich und rassistisch war. Er wurde deswegen 2004 vom Verfassungsgericht verboten und liess sich nach wenigen Wochen wiederauferstehen, umgetauft in „Vlaams Belang“, „das flämische Interesse“. Und wurde nie mehr verboten, obwohl Programm, Politik, Politiker und Slogans die gleichen blieben: „Flandern den Flamen!“ „Ausländer raus!“ „Muslime raus aus Antwerpen!“ „Der belgische Zentralstaat subventioniert Wallonien auf Kosten der Flamen!“ „Die faulen Wallonen saugen uns aus!“
Der Star Bart de Wever
In den letzten etwa zehn Jahren wurde aber der „Belang“ von einer moderateren nationalistischen Flamenpartei dezimiert, der „Nieuwe Vlaamse Alliancie“ NVA, geführt von dem mit Abstand besten belgischen und im Ausland auch schon bekannten Politiker Bart de Wever. Auch de Wever proklamiert (und ab heute muss man wohl im Imperfekt sagen: proklamierte) die Abspaltung Flanderns von Belgien und seine Unabhängigkeit. Rechtsliberal aber ohne Fremden- und Muslimenhass und flexibler: „nicht sofort, aber auf Zeit“.
De Wevers NVA hat bei den zentralistischen, im ganzen Land am gleichen Sonntag obligatorischen Gemeindewahlen vom 14.Oktober letzthin massive Gewinne gebucht. Auf Kosten der drei klassischen Parteien hat er in Flandern einen Drittel der Stimmen gewonnen (absolute Mehrheiten sind im pluralistischen Parteien-Belgien und auch in Flandern undenkbar) und den „Vlaams Belang“ zu einer unbedeutenden Randpartei degradiert. De Wever stürzte sich zudem in den Gemeindewahlkampf der grössten flämischen Stadt Antwerpen und ist von den Antwerpenern zum Bürgermeister gewählt worden, 70 Jahre sozialistischer Domination beendend. Und bleibt gleichzeitig NVA-Präsident.
Unabhängiges Flandern?
Das war ein Fanal, das den Wallonen Angst macht und die flämischen Christlichdemokraten, Liberalen und Sozialisten aufschreckt, denn 2014 müssen nationale Wahlen abgehalten werden und es droht ein Erdrutschsieg von de Wevers Partei, diesen viel schlaueren flämischen Nationalisten. Dann, fürchten die Traditionalisten, droht die Spaltung Belgiens oder, wenn man den Nationalisten nicht nachgibt, eine zweite Unregierbarkeit nach den anderthalb Jahren ohne Regierung 2011-12.
Auch im Ausland ist das bemerkt worden. Auch im Ausland, wo man mit den vertrackten belgischen Verhältnissen weniger vertraut ist, fürchtet man eine Spaltung, welche die Finanzmärkte, die EU und die europäische Politik überhaupt destabilisieren könnte. Belgien wird in den Gazetten neben Schottland und Katalonien als eine der europäischen Regionen gezeichnet, welche sich in den nächsten Jahren von ihrem Staat lösen und unabhängig werden wollen.
Nichts davon!
Ein kleines Wort eines unbekannten flämischen Politikers macht diesen Spekulationen ein Ende. Man hat von ihm noch nie gehört und sein Name ist mir entfallen, aber immerhin ist er Vizevorsitzender der Nieuwe Vlaamse Alliancie und also Stellvertreter von Bart de Wever. Er hat das sicher nicht geäussert ohne seinen Chef zu fragen. Was?
„Die Unabhängigkeit Flanderns ist nicht zu erreichen, sie hat keine Tragfläche unter den Flamen. Das Ziel der NVA ist es jetzt, Belgien zu einer Konföderation umzugestalten.“
Damit zieht die NVA die Konsequenz aus einem seit Jahren sichtbaren Faktum: Die Flamen wollen keine Unabhängigkeit. Sie jubeln jedem flämisch-nationalistischen Spruch wie der „Ausbeutung durch die faulen Wallonen“ zu – aber fragt man sie in Meinungsumfragen nach einer Spaltung Belgiens, sagen 70 bis 80 Prozent Nein. Sie wollen mehr eigene flämische Kompetenzen, weniger Budgettransfers nach Wallonien und eine harte Verteidigung der flämischen Interessen im Staat Belgien, aber sich von ihm trennen wollen sie in überwältigender Mehrheit nicht.
„Konföderation“!?
Darum redet die NVA jetzt von „Konföderation“. Darunter versteht sie das Resultat einer Verhandlung zwischen Flamen und Wallonen über eine „Zusammenarbeit zwischen selbständigen Staaten“ und das noch nötige Minimum zentraler belgischer Kompetenzen. Ein flämischer Völkerrechtler hat sofort eingewendet, eine Konföderation könne nur unter selbständigen Staaten ausgehandelt werden, doch darauf habe ja die NVA soeben verzichtet. Auch müssten sich die Flamen vor Verhandlungen mit Wallonien auf eine gemeinsame Linie einigen, die flämischen Parteien sind aber darüber stark zerstritten.
Und die NVA müsste auch sagen, wen sie denn in dieser Konföderation als die selbständigen Staaten sehe: Flandern und Wallonien – aber was macht man mit der zweisprachigen, mitten in Flandern liegenden, heute nach einer hundertfünfzigjährigen Französisierung aus soziologischen Gründen zu 90 Prozent französischsprachigen Millionenenklave Brüssel? Die flämischen Nationalisten wollen der Hauptstadt auf keinen Fall die Selbständigkeit geben und sie vielmehr einem flämisch-frankophonen Kondominium unterstellen oder zu einem apolitischen „federal district“ machen. Dazu müsste man 900000 frankophone Brüsseler vergewaltigen, die sich dadurch mit Recht entmündigt fühlen würden. Und soll auch die kleine deutschsprachige Gemeinschaft in Ostbelgien, 70000 Bewohner, ein eigener Staat werden und über den belgischen Staatenbund mitverhandeln?
Ein Dogma zerbricht
Die grosse Mehrheit der Flamen wird auch weiterhin den Nationalisten zujubeln, wenn sie von den faulen Wallonen reden. Von der Aufspaltung Belgiens wird sie weiterhin nichts hören wollen. Ein massgebender Exponent der flämischen Nationalisten hat das erstmals anerkannt. Schüchtern und fast versteckt, weil er damit gegen das den flämischen Nationalisten jahrzehntelang verkündete Dogma verstösst. Bart de Wever wird sich möglichst bedeckt halten, aber seinen Vize wohl nicht dementieren können. Das heisst nicht, dass die NVA diese in ihrem Parteiprogramm enthaltenen Ziele aufgibt. Das hat ihr Vizepräsident auch nicht gesagt, und de Wever wird es auch nicht sagen. Aber er wird in nächster Zeit nicht mehr davon reden oder nur noch von Interviewern oder politischen Gegnern in die Enge getrieben. Er und die NVA haben gemerkt, dass ihnen das Insistieren auf einem unabhängigen Flandern in den Wahlen 2014 wahrscheinlich mehr schaden als nützen würde.
Belgien wird sich nicht spalten.