Einen Neubeginn in ihrem Land nach Jahren des Leidens und wachsender Not erhofften sich viele Libanesen von den Parlamentswahlen am 15. Mai. Ob diese Hoffnungen erfüllt werden, kann kurz nach dem Urnengang noch nicht eindeutig prognostiziert werden; es mangelt aber nicht an Hinweisen, dass der Libanon nun doch am Beginn einer neuen Zeit stehen könnte.
So haben sich offenbar die Gewichte zwischen den verschieden politischen Lagern doch mehr verlagert als selbst Optimisten zu erwarten bereit gewesen waren. Und das, obwohl erste Hinweise eher mangelndes Interesse der Wähler zu attestieren schienen: Im Vergleich zu den letzten Wahlen im Jahre 2018 nämlich sank die Wahlbeteiligung von damals 48,86% auf diesmal 41,01%.
«Experten» hatten schnell eine Erklärung parat: Offenbar seien die Wählerverzeichnisse nicht aktualisiert worden und es seien Neuzugänge ebenso übersehen worden wie Abgänge durch Auswanderung, Flucht oder auch Tod – wie bei den folgenschweren Explosionen im Beiruter Hafen vor zwei Jahren. So sehr diese Punkte such zutreffen mögen, so sehr ist aber doch auch offensichtlich, dass inzwischen doch fast allen Libanesen klar geworden ist, dass es so nicht weitergehen durfte: Und zwar nicht nur den knapp 3,9 Millionen Wahlberechtigten.
Unüberschaubaren Strom von Flüchtlingen
Die Wirtschaft der einstigen «Schweiz des Nahen Osten» liegt am Boden und die Politik hat bisher nichts dagegen unternommen. Im Gegenteil: Sie hat mit ihrer Korruption nach Kräften an ihrem Niedergang mitgewirkt. Der lange und verlustreiche Krieg im Nachbarland Syrien hat die Misere im Libanon noch zusätzlich verschlechtert, indem er dem Land einen unüberschaubaren Strom von Flüchtlingen bescherte und ausserdem einen wichtigen Teil des Libanon als Kriegspartei auf Seiten des syrischen Präsidenten Bashir el Assad einschaltete: Die schiitische «Hisbollah».
Diese hatte sich schon längst von einer Vertretung der libanesischen Schiiten zu einer – vom Iran unterstützten – Miliz entwickelt und in der Folge dann zu einer Partei. Der grössten und wichtigsten des Landes, weil sie als einzige ihre (weiterhin vom Iran) bewaffneten Einheiten aufrechterhielt. Auch, weil sie sich mit der «Freien Patriotischen Bewegung» (CPL) von Präsident Michel Aoun liierte. Der Ex-General erfüllt als maronitischer Christ die von der Verfassung festgelegte Voraussetzung für das Präsidenten-Amt, ausserdem teilt er mit der «Hisbollah» deren Ablehnung und Feindseligkeit gegenüber Israel. Beim Wähler scheinen solche «Vorteile» keinen Eindruck gemacht zu haben. Auf jeden Fall ist die Zahl der Wähler für die CPL so stark gesunken, dass ihrem Parteiführer keine bessere Erklärung einfiel als «Wir haben gegen Israel und die USA gekämpft.»
Machtteilung zwischen Sunniten, Schiiten und Christen
Der CPL und Aoun dürften nur wenige Libanesen nachtrauern. Erst recht, weil die Amtszeit des Präsidenten im Herbst zu Ende geht und er nicht wiedergewählt werden kann. Auch weil er inzwischen längst zu den Vertretern des Libanon gehört, die ihre Staatsämter auf Grund der 1926 noch von den Franzosen formulierten Artikel der Verfassung erhielten: Der Ministerpräsident soll sunnitischer Moslem sein, der Parlamentspräsident schiitischer Moslem und der Präsident Christ. Um nur die wichtigsten zu nennen.
Ein Teil dieser «alten Garde» hat es – manchmal seit Jahrzehnten – verstanden, Vorteile aus solchen Verfassungs-Vorgaben zu ziehen. Das bisherige Ergebnis der jüngsten Wahlen aber könnte ein Signal zur Veränderung sein: Unter den 128 Parlamentsabgeordneten gibt es jetzt offenbar eine Reihe Neugewählter, die genau dies ablehnen.